Was ist Transzendental­philosophie?

Transzendentalphilosophie - Darstellung anhand eines Personenschattens

 

Der Guide zur Transzendentalphilosophie einfach erklärt mithilfe eines lebenswirklichen Beispiels

Wenn du dich fragst, warum wir zwar alle wissen, was wir in Anbetracht der Herausforderungen unserer Zeit tun müssten, dann aber nicht zu konkreten Handlungen finden, mit denen wir ihnen begegnen könnten, dann solltest du die Transzendentalphilosophie Immanuel Kants und ihre Weiterentwicklung verstehen.

Definition: Die Transzendental-Philosophie ist eine philosophische Methode, die hilft zu begreifen, wie es zu unserer Erfahrungswirklichkeit kommt. Dafür rekurriert sie auf vorempirische Elemente unseres Erkenntnisvermögens, ohne dabei Metaphysik zu sein.

Lass dich vom Begriff „transzendental“ nicht davon abbringen, die transzendentale Methode Kants und ihre Weiterentwicklung zu verstehen. Das ist nicht so schwer, wie es klingt. Vor allem ist sie auch ein Schlüssel für ethische Fragen, sodass du deine Erkenntnisse für deine Lebenspraxis fruchtbar machen kannst.

In diesem Guide für Anfänger erwarten dich keine Fachsprache und komplexe Formulierungen.

 

 

1. Die Methode der Transzendentalphilosophie nach Kant

Immanuel Kant ist dir wahrscheinlich ein Begriff. Er hat zu ergründen versucht, welche Mechanismen unserem Erkenntnisvermögen zugrunde liegen müssen, damit wir mit unserem Erkenntnisvermögen überhaupt Erfahrungen machen können. Kant erkundet mit diesem Ansinnen in seinem Werk Kritik der reinen Vernunft also einen Bereich, der vor dem Sehen, Hören etc., aber auch vor dem Verstehen liegt. Es handelt sich damit um die Anlagen, die unsere sinnliche und geistige Erfahrung überhaupt erst ermöglichen, mit anderen Worten um die vor-empirischen Anlagen in der „reinen“ Vernunft, die dafür verantwortlich sind, dass du überhaupt etwas wahrnehmen oder verstehen kannst. Diese deiner Erfahrung vorgelagerten, also vorempirischen, oder nochmal mit Kant anders ausgedrückt, apriorischen Anlagen zu beschreiben wird in der Philosophie methodisch als transzendental bezeichnet. Scharf von dieser transzendentalen Methode abzugrenzen ist der Begriff der Transzendenz. Denn dieser beschreibt Dinge, die ganz außerhalb unseres Erkenntnisvermögens liegen und zu denen wir daher keinen wirklichen Zugang haben. Gott ist hierfür das prominenteste Beispiel. Wird er als Schöpfer der Welt gedacht, dann transzendiert, d. h. überschreitet er diese Welt und so auch unsere Vorstellungskraft.

Einfach erklärt bedient sich der Philosoph also einer Denkoperation, die es ihm ermöglicht, „hinter die Kulissen unserer Erfahrungswirklichkeit zu schauen“, um herauszufinden, wie es überhaupt zu einer Erfahrung und so der erfahrenen Wirklichkeit kommen kann. Im Unterschied zur methodischen Vorgehensweise eines Naturwissenschaftlers handelt es sich also nicht um empirisch, sprich durch Erfahrung gewonnene Erkenntnisse, sondern um apriorische, die der Grund und die Ursache für die Möglichkeit deiner durch Erfahrung gewonnenen Erkenntnisse sind. Der Philosoph spricht hier mit Kant von der Bedingung der Möglichkeit der Erfahrungswirklichkeit. Wichtig ist zu wissen, dass diese Methode des Transzendentalismus wissenschaftlichen Ansprüchen genügt und mit ihren Befunden wichtig für deinen erfahrungswirklichen Alltag ist.

 

 

2. Warum die transzendentale Methode wichtig für dich ist!

Mit der transzendentalphilosophischen Methode fragt der Philosoph nicht wie der Biologe, wie unsere Sinne funktionieren, sondern warum sie funktionieren. Er fragt nach den Bedingungen dafür, dass und warum sie funktionieren können. Das mag holprig klingen und für unseren Alltagsverstand kaum greifbar sein, aber einmal durchdacht, erlaubt es dir, mehr über die Welt, in der du lebst, zu erfahren, als nur an der Oberfläche deiner Erfahrungswirklichkeit, die du von ihr hast, zu kratzen.

Stelle dir dazu einmal die Benutzeroberfläche deines Computers vor. Sie bietet dir viele Möglichkeiten, sie für die verschiedensten Dinge anzuwenden. Du weißt jedoch, dass es da etwas gibt, das du nicht siehst, das aber dafür sorgt, dass all dies funktioniert: das Betriebssystem. Es sind die Bedingungen dieser Möglichkeiten, die dich beispielsweise einfach per Mausklick ein Dokument aus dem einen Ordner in einen anderen verschieben lassen. Offensichtlich kann man ein Profi in der Anwendung einer Benutzeroberfläche sein, ohne eine Ahnung von ihrer Programmierung haben zu müssen. Wahrscheinlich ist es auch nicht gewagt anzunehmen, dass das auf die allermeisten Menschen zutrifft, die professionell mit ihrem Computer arbeiten. Ebenso kann man fünfzig Jahre lang unfallfrei Auto fahren, ohne Kfz-Mechaniker zu sein. Wird der Autoverkehr aber zum Problem für die Umwelt, dann reicht das Autofahren-Können alleine nicht aus, eine Lösung zu finden. Und wer Meister in der Anwendung einer Benutzeroberfläche ist, die das Transferieren von Dateien erlaubt, wird deshalb nicht automatisch fähig sein, andere Möglichkeiten des Transferierens zu entwickeln. Wenn du also etwas in der Welt, in der du lebst, verändern willst, dann musst du hinter die Kulissen schauen! Genau diesen Blick hinter die Kulissen bietet dir diese wunderbare transzendentalphilosophische Methode!

 

 

3. Warum Kant in weltanschauungsanalytischer Beleuchtung einer Weiterentwicklung bedarf?

Die Transzendentalphilosophie in der Tradition Kants greift allerdings zu kurz, um wirklich genug über uns selbst zu erfahren und zu erkennen, warum wir so sind und handeln, wie wir sind und wie wir handeln. Kants Untersuchung der apriorischen Anlagen unseres Erkenntnisvermögens nimmt lediglich die Bedingungen der Wirklichkeit unserer Erfahrungswelt in den Blick, nicht aber die Bedingungen ihrer Möglichkeit. Ich erlaube mir zu behaupten, dass Kant in der Philosophie nicht viel mehr als ein sehr guter Soziologe ist, der hinter die Kulissen der kulturellen und gesellschaftlichen Sozialisierungsprozesse zu blicken vermag. So mögen auch der Kfz-Monteur, der Kfz-Mechaniker und der Kfz-Mechatroniker die Bedingung der Wirklichkeit des Autofahren-Könnens sein (sie sind dies mit ihren Fertigkeiten, Autos herzustellen und am Laufen zu halten). Für die Bedingungen ihrer eigenen Möglichkeit müssen sie aber noch lange keinen Blick haben. So verharrt auch die Transzendentalphilosophie in der Spur Kants beim vorempirischen Apriori, sprich den Bedingungen der Wirklichkeit unserer Erfahrungswelt, während die Bedingungen der Möglichkeit dieser apriorischen Bedingungen unbeachtet bleiben.

Nun, eines dürfte klar sein: Damit die vorempirischen Anlagen unseres Erkenntnisvermögens transzendental erforscht werden können, muss der Mensch leibhaftig existieren. Was aber, so fragt es sich, sind nun die Bedingungen der Möglichkeit seiner leiblichen Existenz?! Kant selbst nahm doch ein Ding an sich an, das unserer sinnlichen Leiblichkeit (Erfahrung) nicht zugänglich ist. Wir müssen beziehungsweise Kant hätte auf der metaempirischen Ebene des Dinges an sich also danach fragen müssen, was die Bedingungen von Möglichkeiten sind. Denn auf diese Weise erst können die apriorischen Anlagen, die wirkursächlich für die erfahrungswirkliche Leiblichkeit sind, in den Blick genommen und verstanden werden.

 

 

„Man kann diese Methode Transzendentalismus zweiten Grades nennen. Wolfstädter gebraucht aber, völlig richtig, die Bezeichnung: ‚ausgeweiteter Transzendentalismus‘“.

(Bolesław Andrzejewski, Kantforscher)

 

 

Die transzendentale Denkmethode des Philosophen im Rahmen der Erkenntnistheorie ist nicht so kompliziert. Du musst dich lediglich auf sie einlassen, musst bereit sein, dich mit ihr fallenzulassen, hinabzutauchen in unerforschte Tiefen der menschlichen Existenz. Die Schwierigkeit dabei ist nicht der philosophische Transzendentalismus selbst, sondern seine unzureichende Anwendung. Wir kommen nur weiter, wenn wir etwa auf den Gebieten von Moral und Ethik und auch der (Gender-)Sprache nicht nur halbherzig, sondern tatsächlich einmal mutig zu den Bedingungen der Möglichkeit unserer Existenz vorzudringen wagen!

Wie das gehen kann? Dafür gebe ich dir gerne ein ausführliches Beispiel:

 

 

4. Anwendungsfelder der weiterentwickelten Transzendentalphilosophie

Nun sind wir doch einmal mutig und wenden den transzendentalen Blick des Philosophen nicht nur halbherzig an, sondern schauen beherzt mitten ins Herz der menschlichen Existenz, zu den Bedingungen der Möglichkeit seiner Existenz. Machen wir das, so ist zunächst zu postulieren, dass diese Bedingung vorhanden bzw. philosophisch angenommen sein muss, auch wenn sie gerade nicht sinnlich erfahrbar ist. Schließlich handelt es sich, es sei nochmals gesagt, um die Bedingung der Möglichkeit der (menschlichen) Existenz, wie wir sie auf der erfahrungswirklichen Ebene haben. Es geht hier also nicht etwa um die Bedingung, ein Auge haben zu müssen, um sehen zu können. Das wäre die Bedingung der Wirklichkeit und eben nicht die der Möglichkeit für die Bedingung der Wirklichkeit. Denn das Auge selbst muss schließlich eine Ursache haben, aufgrund der es wiederum als Mittel zum Zweck des Sehens dienen kann.

Die Annahme dieses Grundes oder dieser Ursache ist somit die Begründung des Postulats, dass es sich hierbei um etwas handeln muss, das noch vor den von Kant gedachten Bedingungen der Erfahrungswirklichkeit anzunehmen ist. Ich nenne diese Methode, wie oben im Zitat von Bolesław Andrzejewski erwähnt, ausgeweiteter Transzendentalismus. Und zwar deshalb, weil der Blick auf die Bedingung der Möglichkeit der Existenz des Menschen (oder überhaupt aller Lebewesen) nicht auf Dinge zielt, die außerhalb unseres Erkenntnisvermögens liegen (das wäre transzendent), sondern auf eine Ebene unseres Seins, zu der wir durchaus einen philosophischen Zugang haben, mag das Betrachtete auch keine Bedingung der Wirklichkeit und empirisch für uns nicht erfahrbar sein.

In Bezug auf diese von mir als meta- oder vor-empirisch bezeichnete Ebene spreche ich vom metaobjektitären Bewusstsein. Gemeint ist damit ein Bewusstsein, das besteht, noch bevor es sich in einem Körper als Vergegenständlichung seiner selbst bewusst wird. Damit es zu Körpern mit sinnlicher und geistiger Wahrnehmung kommen kann, müssen bestimmte Bedingungen erfüllt sein. Genau dies ist die Vergegenständlichung durch einen Leib, sodass das Bewusstsein sich überhaupt erst als Gegenstand hat – die verwirklichte Objektität. Nun postuliere ich das Bewusstsein als bereits existent, bevor es auf erfahrungswirklicher Ebene sich selbst zum Gegenstand hat – behaupte also ein metaobjektitäres Bewusstsein. Denn, so fragt sich, auf welche Weise kann die Entwicklung eines Auges evolutionär gedacht werden, wenn die Bedingung für den Zweck des Auges, das Sehen, nicht bereits in der Bedingung für die Möglichkeit der Entwicklung eines Auges enthalten ist? Diese Bedingung der Möglichkeit muss aber notwendig eine metaempirische sein und damit auf metaobjektitärer Ebene transzendental (über Immanuel Kant hinausgehend) gedacht werden.

Wohlan, was heißt all dieses zugegeben sehr abstrakt Gedachte für unsere Lebenswirklichkeit?! Für dich möchte ich an dieser Stelle eine Abkürzung nehmen und die weitere wissenschaftliche Begründung für das Vorgebrachte beiseitelassen. Diese kannst du schließlich, wenn du möchtest, in meiner kulturphilosophischen wie erkenntnistheoretischen Schrift Die Objektität des Bewusstseins nachlesen.

Erwäge für das anstehende Beispiel die folgenden Fragen: Was meinst du zu „sehen“, wenn du im Sinne der ausgeweiteten transzendentalen Methode in einem ersten Schritt auf das blickst, das dich bzw. den Menschen auf der erfahrungswirklichen Ebene ausmacht, sprich auf das, wodurch wir uns in der Regel identitär bestimmen (lassen) oder, historisch betrachtet, bestimmt haben? Etwa verschiedene Hautfarben, Gesichtszüge und Körperformen, die auf der Ebene der Bedingungen der Wirklichkeit als Anhaltspunkt für die Existenz biologischer Rassen angenommen wurden (und in manchen Kreisen immer noch werden)? Wohl kaum. Das hast du gewiss gleich erkannt. Dennoch: Der Menschheitsgeschichte und unserer gegenwärtigen Zeit wäre viel erspart geblieben, wenn sich dieser Glaube nicht in Gesellschaft und Kultur manifestiert hätte. Ja, wenn der transzendentale Blick nach Kant nicht bei den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrungswirklichkeit verharrte. Denn das ist ein Blick, der bei den Bedingungen der Wirklichkeit (beim biologischen Auge als Mittel zum Zweck des Sehens) stecken bleibt.

Aktualisiere nun zunächst deinen Blick mit der nächsten Frage, indem du nicht auf die Gründe für die Annahme von Menschenrassen schaust, sondern analog auf jene für die Annahme von Geschlechtern (sozusagen Menschengeschlechtern): Kannst du mit deinem ausgeweiteten Transzendentalblick, der auf die Bedingungen der Möglichkeit zielt, verschiedene Geschlechter annehmen, weil es auf der erfahrungswirklichen Ebene nun einmal Menschen gibt, die aufgrund ihrer Genitalien, grob gesprochen, in „Frauen“ und „Männer“ einteilt werden? Oder sind der Penis des „Mannes“ und die Vulva der „Frau“ nicht vielmehr Merkmale im Lichte der Bedingungen der Wirklichkeit, in der die biologischen Genitalien als Mittel zum Zweck der zugesprochenen Geschlechtlichkeit fungieren – ganz so wie die biologische schwarze Haut als Mittel zum Zweck der Bestimmung einer vermeintlichen Rasse?

Mit diesen Fragen bist du schon ganz tief in die erweiterte Transzendentalphilosophie eingetaucht. Du merkst, wie spannend es hier wird, wenn du mit der Methode des ausgeweiteten Transzendentalismus auf die Bedingungen der Möglichkeit blickst und offen dafür wirst, auf kulturelle Glaubenssätze zu schauen, die zu hinterfragen du sonst gar nicht in Versuchung gekommen wärst. Bist du aber einmal so weit, dann brauchst du Mut. Genauso wie du ihn gebraucht hättest, um im 18. oder 19. Jahrhundert den Glauben an Menschenrassen infrage zu stellen.

Mut ist damit auch das Markenzeichen von NUDARE AUDE, weil es im Sinne der philosophischen Aufklärung und mit etwas abgewandelten Worten Kants eben Mut braucht, sich ohne Leitung eines anderen seines eigenen Körpers zu bedienen. Es braucht Mut, sich nicht für ihn schämen zu müssen, ihn nicht als biologisches Mittel zum kulturellen Zweck der Geschlechtseinteilung verdinglichen zu lassen.

Schauen wir nun metaempirisch auf die Bedingung der Möglichkeit der Haut- oder Augenfarben, der Körper- oder Genitalformen, oder auch auf die Blutgruppen, weil sie ebenso wie Augenfarben oder Körperformen zwar ihren biologischen Grund haben, gemeinhin aber nicht mitgedacht werden, da sie nicht sichtbar sind (wären sie es, dann träte zum strukturellen Rassismus und Sexismus wohl so etwas wie ein Blutgruppismus hinzu). Was also „siehst“ du? Was musst du philosophisch auf metaobjektitärer Ebene mit deinem ausgeweiteten Tranzendentalblick annehmen, damit es zu den Dingen wie Haarfarben oder Blutgruppen kommen kann? Vordefinierte Gründe für die Haarfarben (der Menschen) etwa? Vordefinierte Gründe für Blutgruppen? Für Genitalien? Steckt, so muss weiterüberlegt werden, die Identität einer Person in diesen vordefinierten Gründen? Können schlussendlich Menschenrassen und Menschengeschlechter mit ihnen begründet werden?

Du ahnst die Antwort: Nein! Denn nochmals anders gefragt ist zu erwägen, ob es für die Bedingung der Möglichkeit unserer Existenz notwendig ist, dass es derartige vordefinierte Gründe geben muss, damit Petrus die Blutgruppe A, Petra einen Uterus und Petrum weiße Haut hat? Oder sind dies dann doch vielmehr Zufälligkeiten, die sich bei der Entwicklung der Individuen biologisch (sichtbar) zeigen?

Habe also Mut, an die Wurzeln des Rassismus und Sexismus zu gehen, wenn du tatsächlich das auf ihnen gebaute Patriarchat zu Fall bringen willst! Dafür brauchst du die Transzendentalphilosophie. Deshalb ist sie für dich wichtig! Denn nur mit dem von der Philosophie geklärten Blick kannst du die Mechanismen der vielen Ismen in Kultur, Politik und Gesellschaft analysieren. Es gilt, sie zu enttarnen und aufzubrechen und nicht erfolglos nur mit der Fahne des Bekenntnisses zu schwenken, dass man es doch irgendwie schaffen müsse. Hast du den Mut dazu, diese Fahne niederzulegen und so spazieren zu gehen, wie du es für richtig hältst?

 

 

 

 

 

5. Wage einen transzendentalphilosophisch begründeten Spaziergang über Kant hinaus!

Kants moralischer Anspruch ist es, „aus Pflicht“, das heißt: aus Achtung vor dem moralischen Gesetz zu handeln, und nicht „aus Neigung“. So ist das beispielsweise der Fall, wenn der Bäcker bei jedem Kunden denselben Preis verlangt, weil er es für moralisch richtig hält und Einsicht in das moralische Gesetz hat, er also deshalb pflichtgemäß „aus Pflicht“ handelt und nicht pflichtgemäß „aus Neigung“, etwa weil er einsieht, dass er sich über Kurz oder Lang ins eigene Fleisch schneidet, wenn er bei einzelnen Kunden mehr zu verlangen versuchte.

Damit wollte Kant zeigen, dass pflichtgemäßes Handeln nicht zwangsläufig einen echten moralischen Wert haben muss. Denn die Ehrlichkeit oder moralische Integrität des Bäckers kann auch täuschen. Schließlich ist dem Bäcker nicht anzusehen, aus welcher Motivation heraus, – aus Pflicht vor dem Moralgesetz oder aus Neigung, weil er seinem Geschäft keinen dauerhaften Schaden zufügen möchte –, er pflichtgemäß handelt.

Können sich diese Erwägungen auf deinen nächsten Spaziergang auswirken? Nun, wenn ich Kants Anspruch folge, aus Pflicht und nicht aus Neigung zu handeln, dann darf die Moral nicht verbieten, was Kants Ethik einfordert. Er selbst also, um das an einem konkreten und lebensweltlichen Beispiel zu verdeutlichen: nichts gegen nackte Mitbürger haben oder gar selber nackt spazierengehen dürfte, wenn er diese Handlung mithilfe seines kategorischen Imperativs prüft.

 

Machen wir es doch einmal. Der kategorische Imperativ lautet:

„Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten

Kants subjektive Handlungsmaxime könnte es also sein, gerne nackt spazieren zu gehen. Nun muss er sich gemäß seines Imperativs fragen, ob er es wollen kann, dass seine gewünschten Nacktspaziergänge ein allgemeines Gesetz werden. Na? Zu welchem Ergebnis wird er mit dieser Prüfung wohl kommen müssen? Es nicht wollen zu können, entspräche wohl eher seinem oder der Gesellschaft innewohnenden Drang, den vorherrschenden Sitten und Normen entsprechen zu wollen, was einer pflichtgemäßen Anwendung des kategorischen Imperativs aus Neigung entspricht. Hingegen die vorbehaltlose Frage des Wollen-Könnens einem pflichtgemäßen Prüfungsverfahren, wie es im kategorischen Imperativ formal vorgegeben ist, gleichkommt und die Anerkennung des Ergebnisses dann aus Pflicht geschieht, das heißt geschehen sollte.

 

 


Spazieren mit Immanuel Kant: Kannst du es als ein allgemeines Gesetz wollen, hier nackt zu sein?

 

 

Mit Kants kategorischen Imperativ muss ich deshalb wollen können (!), selbst nackt spazieren oder wandern zu gehen oder es anderen zuzugestehen, das zu tun. Schließlich kann die Nacktheit, oder anders formuliert, der bloße Körper eines Menschen niemand anderes in seiner Freiheit einschränken, sodass ich eine Konfrontation mit einem unbekleideten Menschen durchaus wollen kann oder muss. Und zwar weil ich einsehe, dass das schlichte Nacktsein (eines) meiner Mitmenschen und die damit verbundene Sichtbarkeit der sogenannten primären Geschlechtsmerkmale in den Bereich des Tolerierbaren fallen; zumal die Genitalien transzendentalphilosophisch keinen (bio-)geschlechtlichen Unterschied zwischen Menschen begründen können. Das kann nur geschehen, wenn du auf der rein erfahrungswirklichen Ebene verharrst und keinen Blick für die apriorischen Bedingungen für die Möglichkeit deiner Leiblichkeit hast. Gerade das allerdings ist ein blinder Fleck in unserer Kultur und Gesellschaft. Ihn beleuchte ich eingehend in meiner kulturphilosophischen Schrift Die Objektität des Bewusstseins.

Worauf wartest du? Willst du es einmal selbst ausprobieren? – Eine Handlung, die zwar moralisch wertvoll ist, von der man aber auf gesellschaftlicher Ebene offenbar nicht wollen kann, dass sie Pflicht ist, sprich eine Handlung, die mit den vorherrschenden moralischen Normen radikal bricht, sie aber dennoch nicht als willkürliche oder egoistische Übertretung der Normativität zu qualifizieren ist? (vgl. Dominik Finkelde, Exzessive Subjektivität, S. 2)

 

 

 

 

Klar ist, dass du es nicht wollen musst, nackt im Freien spazieren zu gehen, du musst allerdings die Freiheit deiner Mitmenschen, dies zu tun, wollen können!

 

 

 

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