Das Gesehen-werden-Wollen beim Nacktsein

Gesehen werden wollen | Ein Mann nackt vor dem Spiegel

In Zusammenarbeit mit Ralf Sprenger

Was bedeutet es, gesehen werden zu wollen?

Das passive Gesehen-Werden und das aktive Gesehen-werden-Wollen (Sich-Zeigen) kann je nach Kontext eine gewollte oder ungewollte Komponente haben. Im Marketingbereich gilt es als gewünscht und selbstbewusst, bei Minderheitengruppen und seltenen Lebensstilen als aufdringlich, oft narzisstisch oder gar exhibitionistisch.

Sehen und Gesehen-Werden beim „Nacktsein“ – worum geht es?

In unserer Kultur sind Menschen in Badehose oder Bikini nichts Besonderes. Oder vielleicht doch? Unwillkürlich geht unser Kopfkino los, und wir stellen uns gutaussehende Menschen mit guten Figuren und schöner – und vor allem viel nackter – Haut vor. Das ist es, was wir sehen wollen. Und das sind wir (zumindest in unserer Vorstellung), wenn wir gesehen werden wollen! In beiden Fällen tun wir das selbstbewusst, ohne Scham und völlig authentisch. Wir wollen dieses Sehen und Gesehen-Werden. Das darin liegende Sich-Zeigen wird dabei nicht nur toleriert, nein – es ist erwünscht, mehr noch: Es wird geradezu eingefordert. Sehen wir uns um, ist offensichtlich, dass Gesellschaft und Medien sich hier die Hand geben.

Bei all dieser Normalität ist aber doch etwas Sonderbares. Vielleicht ist es dir noch nicht aufgefallen, aber dieses Sehen und Gesehen-Werden wird nun jedem Menschen im Schwimmbad zugestanden, ganz gleich, wie er aussieht und wie sehr er dem gesellschaftlichen Schönheitsideal entspricht oder davon abweicht – solange er Badehose oder Bikini anhat. Beim Schwimmbadbesuch ohne Badebekleidung, also nackt, ist das dann aber plötzlich anders. Wahrscheinlich entspricht es auch deiner Erfahrung, dass jeder ganz unabhängig davon, ob er als schön gilt oder nicht, Badekleidung tragen darf. Der entscheidende Punkt ist hier nun, dass die Ästhetik eines Menschen sich doch nicht erst oder zumindest allein an der Sichtbarkeit seiner Genitalien offenbart. Es ist also im Grunde nicht die Ästhetik, die gegen das Nacktsein herangezogen werden kann. Dennoch wird sie gemeinhin auf eine Weise vorgeschoben, als würde sich das Verbot des öffentlichen Nacktseins an ihr entscheiden.

Ist das nicht sonderbar? Stell dir vor, dass du glaubst, nicht dem vorherrschenden Schönheitsideal zu entsprechen. Du bist aber im Schwimmbad und trägst Badebekleidung. Nun lernst du dort jemanden kennen und findest ihn sympathisch. Der Betreffende hat auch noch eine Karte für den Saunabereich gelöst, weil er gerne sauniert – was dir nun gar nicht liegt –, und fragt dich, ob du Lust hast, mitzukommen. – Was?, denkst du. Nackt zu sein war noch nie dein Ding. Du kennst es auch gar nicht. Genierst dich, jetzt mir nichts, dir nichts in die Sauna mitzugehen … Sympathisch findest du ihn aber schon, sodass du, im Glauben an deine unansehnliche Figur, antwortest: „Da müsste ich erst mal ins Fitnessstudio!“

Die vorgeschobene Antwort will nun glauben machen, es läge an der (vermeintlich unansehnlichen) Figur und der Sorge, dem Schönheitsideal nicht zu entsprechen, dass man nicht nackt gesehen werden möchte und lieber in Badehose oder Bikini bleibt. Nur: Es stimmt nicht! Haben wir nicht oben festgestellt, dass jeder unabhängig vom Schönheitsideal sich im Schwimmbad in Badekleidung zeigen darf? Nein, hier geht es ganz konkret um die Sichtbarkeit deiner Vulva oder deines Penis, die dich daran hindert, in den textilfreien Bereich zu gehen. Denn, und das wirst du zugeben, dein körperliches Erscheinungsbild und wie du auf andere ästhetisch wirkst, entscheidet sich nicht an deinem Geschlechtsorgan. Deine Figur, die du angeblich in der Sauna nicht preisgeben willst, ist mit Badehose genauso gut zu sehen wie ohne.

Ist nicht sonderbar, wie hier der eigentliche Grund verheimlicht wird? Und müsste es im Gegenzug nicht gesellschaftlich akzeptiert, ja ganz normal sein, dass Menschen, die unserem Schönheitsideal entsprechen, ohne Badehose oder Bikini in der Öffentlichkeit schwimmen, spazieren oder Sport treiben können beziehungsweise dürfen? Eine gute, schöne Figur hätten sie ja, sie bräuchten also nichts zu verstecken.

Was bedeutet das Gesehen-werden-Wollen bei Menschen, die gerne nackt sind?

Schauen wir uns die Sache etwas näher an. Die Psychologie des Sehen(-Wollen) und Gesehen-werden(-Wollen) hat ihren Grund in der Anerkennung des eigenen Verhaltens und in der Angst vor Ablehnung bei dem Bestreben, dieses Verhalten in der Gesellschaft sichtbar zu machen. Mit dem gerade beschriebenen Gedankenspiel hast du erkannt, dass du, Badebekleidung hin oder her, bereits mit deinem Körper gesehen wirst und dieses Gesehen-Werden vielleicht sogar willst, da du zu deiner Figur stehst und dir das Recht nimmst, ins Schwimmbad zu gehen. Allein dafür braucht es durchaus Mut – schließlich weißt du, dass es Menschen um dich herum gibt, die abschätzig über dich denken oder dies gar lautstark bekunden. Das Tragen von Badehose und Bikini wird aber letztlich jedem Menschen zugestanden, ganz egal, ob er dem Schönheitsideal entspricht oder nicht. Das ist schon mal eine gute Basis, die dir dabei hilft, mutig zu sein.

Stelle dir nun vor, du würdest gerne genau das sein, was du oben mit Verweis auf deine Figur vermeiden wolltest: nackt! Tatsächlich gibt es viele Menschen, auf die das zutrifft und die das Nacktsein gerne auch, ohne sich verstecken zu müssen, ausleben würden. Sie stehen nun vor dem Problem der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz und der Angst vor Ablehnung – so wie du mit Blick auf deine Figur, allerdings mit dem gravierenden Unterschied, dass ihnen gemeinhin keine Basis geboten wird, auf der sie ein selbstbestimmtes Gesehen-werden-Wollen einfordern und ein selbstbewusstes Ja-Sagen zu ihrer Lebensweise gründen könnten. So können wir beispielsweise keinen unbekleideten Spaziergang auf dem kleinen Hausberg „Lehener Bergle“ (Ulrich) oder eine Mountainbike-Tour auf dem Feldberg im Taunus (Ralf) machen, geschweige denn das Vorhaben von der Haustüre an beginnen zu lassen, wie wir es gerne tun würden, ohne dass dabei eine störende Angst aufkommt – nicht, gesehen zu werden, sondern Angst, auf Ablehnung zu stoßen. Schließlich wird uns das Nacktsein nicht per se zugestanden. Das Gesehen-Werden und Gesehen-werden-Wollen beinhaltet daher für Anhänger des Naturismus – so die Bezeichnung für Menschen, die gerne ungezwungen im öffentlichen Raum nackt sind – eine subtilere Komponente. Das macht eine genauere Analyse erforderlich.

Auch der Naturist muss das Gesehen-Werden wollen dürfen

Menschen, die sich dazu entscheiden, in der freien Natur oder so oft wie möglich nackt zu sein, weil sie sich unbekleidet besser und wohler fühlen, sehen sich hart mit den Aspekten der selbstbewussten Entscheidung des Gesehen-Werdens und des damit einhergehenden Wollen-Dürfens konfrontiert. Zwar wird im landläufigen Diskurs gebetsmühlenartig heruntergebetet, dass man doch bitte so sein und sich so zeigen dürfe, wie man sei. Naturisten oder auch die Anhänger der Freikörperkultur  müssen indes rasch feststellen, dass die naturistische Lebensweise dabei übersehen wird und ein blinder Fleck bleibt.

Mit ihrem Bedürfnis, sich zu zeigen und gesehen zu werden, ohne es wollend zu dürfen – oder dürfend zu wollen –, befinden sich Naturisten folglich in einem schwerwiegenden Dilemma. Einerseits wissen sie, dass ihnen die Gesellschaft in aller Regel Voyeurismus oder gar Exhibitionismus (zumindest unterschwellig) unterstellt. Das macht es unangenehm, seine Bedürfnisse mitzuteilen oder sich als Naturist zu outen. Andererseits weiß der Naturist aber auch um seine wahren Beweggründe für seinen Wunsch, vor anderen unbekleidet zu sein, unbekleidet in der Öffentlichkeit gesehen zu werden. Die Gesellschaft vermag darin meist nichts anderes zu erkennen als ein voyeuristisches oder exhibitionistisches Sich-Zeigen. Das ist so sehr ein Vor- wie ein Fehlurteil, geht es dem Naturisten doch um die Akzeptanz seines Rechts auf Ausleben seiner Lebensweise. Freilich scheint sich dessen niemand bewusst zu sein. Umso mehr will der Naturist sich mit seiner Lebensweise klar vom sexuell motivierten „Sich-Zeigen“ losgelöst wissen.

Wenn du gerne nackt bist, musst du deine Scham vor dem Gesehen-werden-Wollen überwinden

Was hältst du von der folgenden Grundüberzeugung: Es gibt kein Körperteil, für das man sich schon allein, weil es vorhanden ist, schämen sollte, da ansonsten – und das meinen wir ganz ernst – die eigene Menschlichkeit in Frage gestellt wird. Klingt plausibel? Nun, diese Einsicht schließt freilich die primären Geschlechtsmerkmale mit ein. Mehr noch fordert sie im Grunde aus sich selbst heraus dazu auf, zu wollen, auch nackt gesehen zu werden. Es geht nicht darum, sich einfach zu präsentieren. Nein, es geht um das Bedürfnis, sich als ein natürlicher, ganzheitlicher Mensch zu erfahren, sozusagen als ein Ganzkörpermensch. Dass derjenige, der sich für alle seine Körperteile nicht schämt, will, dass er mit seiner unverhüllten Anatomie gesehen werden (darf), ist also der entscheidende Dreh- und Angelpunkt im Schema der Psychologie des Sehens und Gesehen-Werdens im Wechselspiel des gesellschaftlichen (leider meist voyeuristisch konnotierten) Sich-Zeigens.

Um den Punkt, um den es hier geht, wirklich klarzumachen, kannst du noch ein Gedankenexperiment anstellen: Stell dir vor, wir Menschen müssten irgendeine unserer Eigenarten oder eben ein Körperteil von uns aufgrund kultureller Zwänge in der Öffentlichkeit verbergen – beispielsweise unsere Bewegung oder unsere Ohren. Aber führt das dann nicht gerade zu dem Drang, zu wollen, dass diese Dinge gesehen werden? Weil wir uns auch in der Öffentlichkeit, also auf gesellschaftlicher Ebene, als ganz normale, ganzheitliche Menschen verstanden wissen wollen? Dieser Wunsch oder Mechanismus ist nun bei der Bewegung oder den Ohren genauso und mit derselben Intention (!) vorhanden, wie es bei den sogenannten Schamteilen Penis und Vulva oder einer Devianz davon der Fall ist. Nur braucht es den Wunsch des Gesehen-werden-Wollens im Falle der Bewegung und der Ohren in unserer Gesellschaft überhaupt nicht, weil der genannte kulturelle Zwang zum Verbergen hier nicht besteht. Damit wird dieser Wunsch erst gar nicht bewusst wird, weshalb es ganz selbstverständlich ist, sich nicht dafür zu schämen beziehungsweise schämen zu müssen.

Woher dieser kulturell-gesellschaftliche Zwang auch immer kommen mag, dass er doch eher zweifelhaft ist, zeigt sich, wenn du dir die folgende Frage stellst: Versteckt etwa irgendjemand seine Hände, weil sie grausame Dinge verrichten, oder seinen Mund, weil mit ihm schlimme Dinge gesagt werden können? Natürlich nicht. Ist es dann aber ein guter Grund für das zwanghafte Verdecken der Geschlechtsteile, weil mit ihnen sexueller Missbrauch geschehen kann …?

Zu wollen, gesehen zu werden, ist vor dem Hintergrund dieser Erwägungen ein notwendiger und nachvollziehbarer Wunsch desjenigen, der die Grundüberzeugung teilt, dass man sich nicht für das bloße Vorhandensein der Geschlechtsteile zu schämen – und schon gar nicht kriminalisieren zu lassen – braucht. Um nun aber als Naturist in der Öffentlichkeit die Erfahrung machen zu können, auch unbekleidet ein ganz normaler, ganzheitlicher Mensch zu sein, der schlicht und ergreifend sein Recht auf einen naturistischen Lebensstils in Anspruch nimmt, muss man wollen, gesehen zu werden. Dieser Drang des Sich-zeigen-Müssens ist aber letztlich – das dürfte klar geworden sein – ein von Gesellschaft und Kultur künstlich erzeugtes Phänomen, das im Lichte unserer wirkmächtigen Sitten und Normen der Manierlichkeit im landläufigen gesellschaftlichen Kontext voyeuristisch pervertiert und zuweilen sogar rechtlich sanktioniert wird.

Du bist dein sichtbarer Körper. Deshalb darfst du dich zeigen, wie du geboren bist. In jedem Alter!

Wenn wir die Kleidung in ihrer Funktion begreifen, also sehen, dass sie uns beispielsweise bei Arbeiten vor Verletzungen und bei niederen Temperaturen vor Kälte schützen kann, und wenn wir diese Tatsache für sich genommen ernst nehmen, dann steht doch nichts dem Gedanken entgegen, bei Bedarf oder nach Lust und Laune einzelne oder alle Körperteile verhüllen und bei anderer Gelegenheit wieder enthüllen zu dürfen. Warum sollte das bei den Geschlechtsteilen anders sein? Sie machen nur einen Bruchteil des Prozentsatzes an Haut aus, die der menschliche Körper hat; wer, wie es immer wieder mal vorwurfsvoll heißt, „viel Haut“ zeigt, tut das nicht mit seinen Geschlechtsteilen. Warum darf man sich bei Bedarf oder auch nur bei Lust und Laune aller Kleidung entledigen bis auf jene, die die Geschlechtsteile verhüllen soll? Ist diese Verhüllung nicht unreflektierter Selbstzweck, wenn die (Bade‑)Hose kein Mittel zum Zweck des Badens, Sonnens, Spazierens oder Sporttreibens, sondern eben nur des Verbergens ist?

Wenn du dir das wirklich klarmachst, dann wirst du zugeben müssen, dass sich der Mensch im eigentlichen Sinn nicht entblößt, sobald seine Geschlechtsteile unverhüllt sind, sondern er schlicht und einfach unbekleidet ist (mehr dazu im „kleinen Exkurs“ im Blogartikel zur Freikörperkultur). Bei Kindern, die noch nicht durch ihre Erziehung und Sozialisation gelernt haben, ihre Genitalien als etwas zu begreifen, für das sie sich zu schämen haben, ist das sehr gut zu beobachten. Sie betrachten nackte Menschen und ggf. sich selbst lediglich als unbekleidete Menschen; irgendein Problem ergibt sich damit für sie nicht. Und doch wird oft darauf verwiesen, es gelte gerade Kinder vor Nacktheit zu schützen. Aber wovor soll denn eigentlich geschützt werden? Vor einem Menschen? Vor einem Körperteil? Vor sich selbst …? Vielleicht gar vor der Lösung (!) des Problems: vor echter Toleranz, der freilich die Doppelmoral im Wege steht, wortreich von bedingungsloser Menschenwürde zu sprechen, de facto aber die Menschen mit den Mitteln der Scham und des Schönheitsideals zu (Sex-)Objekten zu machen?

Im Übrigen ist es ein Zeichen verquerer Moral, wenn gesellschaftlich akzeptiert wird, dass Kinder in der Öffentlichkeit nackt sein dürfen, Erwachsene aber nicht. Warum sollte das schlichte Unbekleidet-Sein bei Kindern etwas anderes sein als bei Erwachsenen? Den Übergang in die anerzogene Scham für einen Teil von sich selbst halte ich jedenfalls für eine folgenschwere psychische Belastung – immerhin werden der Wunsch und das Bedürfnis, die Akzeptanz der Natürlichkeit seines Körpers zu erfahren, mit fadenscheinigen Gründen einfach so weggewischt.

Betrachte einmal die folgenden, nicht selten anzutreffenden Verhaltensweisen und frage dich, ob es nicht sinnvoller wäre, die darin liegende Komik aufzugeben. Bestimmt konntest du schon öfters im Schwimmbad oder am Baggersee beobachten, wie sich jemand ganz ungeniert kurz umzieht, ohne dass sich irgendjemand daran stört. Aber wäre es nicht einfacher, die Badekleidung für den Wassergang kurz auszuziehen und sie dann wieder trocken anzuziehen? Wäre es mit Blick auf die Vermeidung sexueller Reize nicht konsequenter, den Bikini gleich ganz wegzulassen, anstatt die zu drei Vierteln sichtbare Brust mit einem hübschen Textilstück zu untermalen und die mehr als zur Hälfte sichtbaren Pobacken noch hervorzuheben, wenn doch im Moment des Umziehens ohnehin alles zu sehen ist beziehungsweise war? Ließe sich die merkwürdig-unfreiwillige Komik nicht vermeiden, wenn man endlich erkennen würde, dass Kleider Leute machen, aber keine Menschen?[1]

Das Wollen, nackt gesehen zu werden – ein Menschenrecht?!

Frei von Kleidung sein, ohne dabei als anstößig empfunden zu werden, ohne dass „nackt“ im übertragenen Sinn als verletzlich oder entblößt angesehen wird, beschreibt einen so subtilen wie gewichtigen Aspekt der Menschlichkeit des Menschen. Wird er in Frage gestellt, so werden auch bei anderen gesamtgesellschaftlichen Anliegen, denen sich eigentlich niemand wirklich entziehen kann oder sollte, die tieferliegenden Mechanismen nicht verstanden, die sich aber bei deren Kenntnis im Grunde bekämpfen ließen. Bei Randgruppen wie Homosexuellen, Divers-Geschlechtlichen, ethnischen Minderheiten oder Transsexuellen spielt das Gesehen-werden-Dürfen die entscheidende Rolle im Kampf um ihre Gleichberechtigung und gesellschaftliche Akzeptanz. Mir fällt weder spontan noch nach längerem Überlegen kein wirklich ernst zu nehmender Grund ein, warum das bei naturistisch geprägten Menschen anders sein sollte, warum ihnen das Recht darauf, gesehen werden zu wollen, also auf gesellschaftlicher Ebene wahrgenommen und akzeptiert zu werden, abzusprechen sei.

Man muss sich bewusst machen, dass Rechte nur in einer ebenso heterogenen wie egalitären Gesellschaft Sinn machen. Wie könnte man beispielsweise von den Rechten schwuler Menschen sprechen, wenn ihnen dort, wo es niemand sieht, zugestanden wird, ihre Zuneigung zu zeigen, nicht aber in der Öffentlichkeit? Nun wurde der sogenannte Schwulenparagraph (§ 175 StGB) am 11. Juni 1994 abgeschafft. Zu hoffen ist, dass das naturistisch gelebte Nacktsein möglichst bald seinerseits nicht mehr in die Nähe einer Ordnungswidrigkeit (nach OWiG § 118) gerückt wird. Dabei ist Nacktheit mit diesem Gesetz ja überhaupt nicht erfasst! Und doch wird es wie selbstverständlich herangezogen, wenn sich jemand mit unerwünschter Nacktheit konfrontiert sieht oder überraschend einem nackten Passanten begegnet und dies als „eine grob ungehörige Handlung“ auffassen zu können glaubt, die „geeignet ist, die Allgemeinheit zu belästigen oder zu gefährden und die öffentliche Ordnung zu beeinträchtigen.“ Wo besteht die Gefahr, wo die Beeinträchtigung? Das Recht auf das Gesehen-Werden muss auch auf die naturistische Lebensweise bezogen und angewandt werden. Soll der Veganer nur zu Hause seine Überzeugung, Tiere nicht unnötig zu quälen, ausleben dürfen, in der Öffentlichkeit aber keine Möglichkeiten etwa in Form „offen“ veganer Restaurants finden? Soll der Schwule nur in der eigenen Wohnung Händchen halten und seinen Partner küssen? Nein? Aber warum soll dann der Naturist nur hinter verschlossenen Türen und Wänden nackt sein dürfen?

Fazit

Die Einsicht, die du aus all dem gewinnen kannst, lautet: Du kannst nur sittenwidrig handeln, nicht aber sittenwidrig sein! Das heißt dann aber, dass niemand allein schon für seine leibliche Erscheinung in Frage gestellt, ausgelacht, als abnormal behandelt und schließlich diskriminiert werden darf. Nebenbei bemerkt habe ich noch nie einen solch hässlichen Menschen gesehen, dass es gerechtfertigt erschiene, allen Menschen das Recht auf die Freiheit zu verwehren, das wunderbare Gefühl des ungenierten und respektvollen Nacktseins zu erleben. Selbst wenn es solche hässlichen Menschen gäbe, fiele dies in den Bereich der Toleranz und Achtung der Menschenwürde – ob mit oder ohne Bikini und Badehose.

Das Gesehen-werden-Wollen ist ein natürlicher, vor dem Hintergrund dieser Betrachtungen aber auch notwendiger Wunsch, sich für nichts an sich selbst schämen zu müssen. Es ist der Wunsch, die Erfahrung machen zu dürfen beziehungsweise zu können, dass es völlig normal ist, einen Penis oder eine Vulva zu haben, so wie es normal ist, Nasen, Ohren, Münder, Vulvalippen und Hodensäcke zu haben – ganz so, wie es völlig normal ist (einzufordern), dem herrschenden Schönheitsideal nicht entsprechen, sein Gesicht, ganz gleich welchen Aussehens, nicht verstecken zu müssen. Es ist der Wunsch, zu spüren, unbekleidet nicht anders behandelt und akzeptiert zu werden wie bekleidet; der Wunsch schließlich, als Mensch – unabhängig von seinen Geschlechtsmerkmalen – behandelt zu werden, der sich in keinem Alter weder für seinen (nackten) Körper noch für sein Bedürfnis des (Nackt-)Gesehen-Werdens zu schämen braucht.

Das Gesehen-werden-Wollen beim naturistisch geprägten Nacktsein ist nicht sexuell motiviert. Die Verbindung von Nacktheit und Sexualität (Nacktsein-Sex-Kopplung) ist jedoch ein gesellschaftlich aufgeladenes Thema und damit ein großes Hindernis für den Kampf des Naturisten um das Recht auf Nacktheit. Selbstverständlich ist auch er ein sexuelles Wesen, aber er grenzt sich mit seiner Lebensweise klar von Menschen ab, die das Gesehen-werden-Wollen und das Sich-Zeigen sexuell aufladen und zur eigenen Stimulation benutzen. Umso mehr gilt es, die Nacktheit als natürlichen Zustand einzufordern und von sexuellen Motiven zu trennen.

Wenn du tief in dein Herz hineinspürst, spürst du Liebe.

Ganz tief drinnen bist du Liebe.

Diese Liebe leuchtet als Licht, und deshalb möchtest du wirklich gesehen werden.

David Deida (2022). Du bist Liebe, S. 13


[1] Leichte Abwandlung des Zitats von Othmar Cappelmann: „Kleider machen Leute – aber sie machen nicht den Menschen.“

2 Kommentare

  1. Es ist schon merkwürdig, in unserem Freibad ziehe ich mich auf der Wiese im stehen um. Jeder kann mich nackt sehen. Der Schwimmmeister und die Badegäste scheint es nicht zu stören.
    Auch eine Frau hat sich so mal auf der Wiese umgezogen.
    Im Wasser hat man dann eine Badehose an. Auf der Wiese, für alle sichtbar, ziehe ich mich wieder um. Warum geht man dann nicht nackt ins Wasser?
    In den öffentlich – rechtlichen Fernsehen sieht man manchmal auch nackte Menschen (Sendung über Naturismus, FKK-Tag ein französischer Film im Arte). Das wird dann geduldet. Aber nicht, wenn man einen nackten Menschen begegnet.

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  2. Nacktheit im öffentlichen Raum ist in Deutschland grundsätzlich erlaubt; es sei denn, sie ist per öffentlicher Erklärung (Schilder Plakate usw.) ausdrücklich verboten. Im nichtöffentlichen – also privaten oder kommunalen Raum – bestimmt das Hausrecht die Bekleidungsregeln. Da in Deutschland mehrheitlich das Erziehungskonzept gilt, fast immer Bekleidung zu tragen, entsteht in der Öffentlichkeit der Eindruck, nackt i. ö. Raum zu sein, sei unangemessen, man tue es nicht. Wer die Idee der Aufklärung ernst nimmt und sich seines Verstandes bemüht oder den oben im Blog dargelegten Überlegungen folgt, macht folgende Erfahrung – wie ich und viele andere:

    Nacktheit i. ö. Raum wird von der großen Mehrheit in Deutschland toleriert und auch von vielen akzeptiert (für angemessen empfunden) und je häufiger Nacktheit i. ö. Raum erlebt wird, desto selbstverständlicher wird diese als völlig in Ordnung verstanden. Das sind ganz konkrete eigene Erfahrungen aus nun jahrelangen Nacktwanderungen oder nacktem Baden in öffentlichen Gewässern usw. Völlig problemlos kann man sich bei solchen Gelegenheiten in nacktem Zustand mit ggf. Bekleideten unterhalten oder gemeinsam z. B. Wandern.

    Die Erich Kästner – auch auf NUDARE AUDE zitiert – zugeschriebene Äußerung – ES GIBT NICHTS GUTES, AUSSER MAN TUT ES – bestätig sich auch für mich im Zusammenhang mit der hier diskutierten Nacktheit gleich doppelt: Es tut gut, z. B. nackt zu wandern und es ist im Sinne der Aufklärung (der noch nicht Nackten) gut, in der Öffentlichkeit vorzuführen und damit zu zeigen, dass Nacktheit i. ö. Raum weitgehend toleriert und auch akzeptiert wird.

    Und eine persönliche Empfehlung – TRAUT EUCH. Denn vor Kästner gab es schon Thukydides und der schrieb:

    Das Geheimnis des Glücks ist die Freiheit,
    das Geheimnis der Freiheit ist der Mut.

    Thukydides * vor 454 v. Chr.; † wohl zwischen 399 v. Chr. und 396 v. Chr.) war ein aus aristokratischen Verhältnissen stammender Athener Stratege, vor allem aber einer der bedeutendsten antiken griechischen Geschichtsschreiber.

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