Der Aufbau der Erkenntnis nach Thomas von Aquin

Thomas von Aquins Erkenntnistheorie | Bild von einer Textkopie

Zusammenfassung

Jeder lebendige Körper hat nach allgemeiner scholastischer Auffassung einen ersten Grund, wodurch er belebt wird. Als erster Lebensgrund gilt die Seele, die den Körper bestimmt und verwirklicht. Der Körper ist bestimmbar und hat in seiner Anlage die Möglichkeit belebt zu werden. Das Erkennen stützt sich auf die Wirklichkeit eines Dinges. Was im unbestimmten Zustand der Möglichkeit bleibt, ist nicht erkennbar. So bilden die Begriffe Wirklichkeit und Möglichkeit den Wirkungszusammenhang zwischen Geistigem und Körperlichem.

In diesem Blogartikel wird anhand dieser Begriffe und ihres Zusammenhangs die Struktur der Erkenntnistheorie im Traktat De homine in der Summa Theologiae des Thomas von Aquin unter der Annahme der Leib-Seele-Einheit des Menschen nachvollzogen.

Zugrundeliegende Primärliteratur:

Die Deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa theologica, Bd. 6, übersetzt und kommentiert von den Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Heidelberg -) Graz – Wien – Köln 1933ff.

1.         Einleitung in die Erkenntnistheorie des Thomas von Aquin

Eine bedeutende Erkenntnistheorie in der Philosophiegeschichte ist die des Thomas von Aquin (1225 – 1275), der jene des Aristoteles[1] weiterentwickelte. Thomas stellt die in ihrem Wesen lebensspendende Seele als Wirklichkeit, als Akt, dem Körper als Möglichkeit, als Potenz gegenüber. Die Erkenntnistätigkeit des Menschen beruht auf diesem Akt-Potenz-Verhältnis.

Das zentrale philosophische Problem hierbei ist die Frage wie der immaterielle Verstand mit materiellen Dingen in einer Beziehung stehen kann.

1.1       Möglichkeit und Wirklichkeit

Alles Sein resultiert aus der Verbindung der Wirklichkeit mit der Möglichkeit. Ein aus Stoff und Form zusammengesetzter Gegenstand setzt sich aus der Differenz beider Zustände zusammen. Stoff und Form sind nicht getrennt voneinander erfahrbar, nur das Ganze bildet die Substanz aus Stoff und Form. Fällt ein Teil weg, zum Beispiel beim Tod eines Menschen, geht damit immer eine substantielle Veränderung einher. Da jedoch jeder Veränderung eine Wirkursache zugrunde liegen muss und sich nichts selbst verändern kann, muss es eine verwirklichende Wirkursache geben, die selbst in Wirklichkeit ist.

 Gott ist das vollkommenste Wesen. Er ist reine Wirklichkeit (actus purus). Der ersten Stoff (prima materia) steht ihm in niedrigster Vollkommenheitsstufe als reine Möglichkeit gegenüber. Die weltlichen Seinsheiten befinden sich in abgestufter Vollkommenheit dazwischen.

Es gilt, dass sich nichts aus sich selbst heraus verwirklichen kann. Es ist für alles eine verwirklichende Form notwendig. Baumstämme beispielsweise sind der Möglichkeit nach Möbelstücke, der Wirklichkeit nach sind sie es nicht. Hat der Schreiner sie bearbeitet, sind sie es der Wirklichkeit nach.

1.2       Gegenstand und Herleitung der Verstandeserkenntnis

Nach thomistischer Lehre leitet sich die Verstandeserkenntnis von der Außenwelt, den sinnfälligen Dingen, her. Damit stellt sich Thomas gegen die Lehre der Vorsokratiker, gegen die Platons[2], des Lehrers von Aristoteles, wie auch gegen den arabischen Aristoteleskommentator Avicenna[3].

Die Vorsokratiker, von Thomas auch Naturphilosophen genannt, haben in ihren ersten philosophischen Theorien die Seele als einen Körper angesehen. Für sie war alles Körper. Demokrit[4] verband einen Atomstrom mit der stofflichen Seele, in welcher so ein Abbild des Erkenntnisgegenstandes eingraviert wurde. Andere[5] ließen die Seele aus jenen Elementen bestehen, aus welchen auch die Dinge bestünden.

Platon, der erkannte, dass die Seele nicht aus Stoff bestehen kann, nahm für sich bestehende stofflose Formen an, an denen die Dinge Anteil hätten, um ein bestimmtes Sein zu erhalten. Die Seele selbst habe an den Formen Anteil, um die Dinge zu erkennen. Mit dem Leib verbunden sei sie lediglich daran gehindert, durch die von Natur aus mitgegebene Erkenntnisbilder, die sie von den stofflosen Formen vor dem Eintritt in den Körper erworben habe, zu erkennen. Platon nahm dies an, weil der Körper die Erkenntnis eines anderen Körpers behindere.

Avicenna nahm wie Platon an, dass die Seele die Erkenntnisbilder von für sich bestehenden Formen empfinge, verlagerte sie jedoch, von Aristoteles beeinflusst,  in einen von der Seele getrennten „tätigen Verstand“, der allen Menschen zuteil werde.

Wenn nun die Seele weder durch ihre eigene Wesenheit, weder durch von Natur aus mitgegebene Erkenntnisbilder, noch durch Erkenntnisbilder, die unter dem Einfluss eines selbständigen tätigen Verstandes stehen, erkennt, dann müssen es die stofflichen Dinge selbst sein, die den Verstand mittels der Sinne zur Verstandeserkenntnis führen.  

Die aristotelisch-thomistische Seelenlehre geht demnach von einer Seele aus, dessen Verstand sei „wie eine Tafel, auf der nichts geschrieben steht“[6].

Hier zeigt sich das eingangs erwähnte Problem. Die sinnfälligen Dinge sind es zwar, die dem Verstand die Gegenstände für die Erkenntnis liefern, sie können aber an sich den Verstand nicht bestimmen, da die sinnfälligen Dinge stofflich sind und der Verstand unstofflich ist. Nur der Verstand selbst kann sich zur Erkenntnis bestimmen. Wie Thomas dieses Problem der Aufnahme stofflicher Gegenstände in eine unstoffliche leere Tafel löst, wird weiter unten erklärt.

 1.3      Die verschiedenen Seinsstufen

Ein lebloser Gegenstand, z.B. ein Stein, hat nichts als seine Existenz. Seine verwirklichende Form erlaubt ihm keine Vermögen. Nur eine natürliche Veränderung, zum Beispiel die Aufnahme von Wärme, findet statt.

Der verwirklichenden Form einer Pflanze wird eine Seele zugesprochen, da sie sich aus sich selbst heraus bewegt. Die Form lässt drei Vermögen zu: die wachstumsbewirkende Kraft, die Ernährungskraft und das Zeugungsvermögen. Sie hat nur Tätigkeiten in sich, nimmt das zum Leben erforderliche stofflich auf und weiß ebenso wenig wie der Stein um ihre Existenz. Das Zeugungsvermögen ist dabei das Vollkommenste, da die Wirkung der Tätigkeit nach außen geht (nichts kann sich selbst erzeugen).

Die Form eines Sinnenwesens, wie z. B. ein Pferd, hat Tätigkeiten, die auf Außendinge gerichtet sind und diese nicht mehr rein stofflich aufnimmt. Es finden sich fünf äußere und vier innere sinnlich wahrnehmende Vermögen,  die weiter unten erklärt werden.

Die Form des Menschen zählt zur vollkommensten Form. Neben den Vermögen des Sinnenwesens kommen beim Menschen die Verstandesvermögen Verstand und Wille hinzu.

  • Durch den Stoff wird aber die Form des Dinges auf ein Einzelnes beschränkt. Daher liegt es auf der Hand, dass das Wesen des Erkennens zur Stofflichkeit im Gegensatz steht. Was deshalb die Formen nur stofflich aufnimmt, ist nach Aristoteles in keiner Weise fähig zu erkennen, so die Pflanzen. Je unstofflicher aber etwas die Form eines erkannten Dinges besitzt, desto vollkommener erkennt es.[7]

Die Form ist  der Grund der Tätigkeit. Je unstofflicher die Form, zum Beispiel die menschliche Seele, desto vollkommener ist die Tätigkeit, zum Beispiel das Verstehen.

1.4 Die Vermögensgattungen

Der Verstand steht  zum Verstehbaren in Möglichkeit, weil er nicht immer und alles gleichzeitig versteht. Darum verhält er sich wie die Möglichkeit zur Wirklichkeit. Ein Vermögen lässt sich somit immer als Möglichkeit zu einer Tätigkeit auffassen.

Das Verstandesvermögen ist jedoch nicht das Wesen der Seele. Das Wesen der Seele ist erster Lebensgrund zu sein (primum principium vitae). Der Verstand ist ein Vermögen der Seele, der sie als Untergrund hat.

Die Vermögen lassen sich an der Tätigkeit in Wirklichkeit erkennen, welche ein lebendiges Wesen ausübt, wie das Wachstum bei Pflanzen, sinnliche Wahrnehmung bei Tieren und Erkenntnis beim Menschen. Alle Vermögen haben die Seele als Urgrund.

Ein Seelenvermögen ist der Grund einer Tätigkeit, wie z.B. der Verstand Grund des Verstehens ist. Lassen sich aber verschiedene Tätigkeiten nicht auf denselben Grund zurückführen, so muss dafür ein anderes Vermögen angenommen werden.

Im Folgenden werden die verschiedene Vermögen Gattungen zugeordnet:

Die Vermögen der vegetativen Seele (Pflanze) haben nur den mit sich vereinten Körper zum Gegenstand. Diese gehören der ernährenden Vermögensgattung an. (potentiae vegetativae). Die Vermögen der sensitiven Seele (Tier) haben nicht nur den mit der Seele vereinten Körper zum Gegenstand, sondern auch jeden anderen sinnfälligen Körper. Dieser Vermögensgattung werden die sinnlich wahrnehmenden Vermögen zugeschrieben (potentiae sensitivae).

Die Vermögen der rationalen Seele (Mensch) wenden sich einem noch allgemeineren Gegenstand als den sinnfälligen Dingen zu, nämlich jeglichem Seienden. Diese Seelenvermögen zählen zur verstehenden Vermögensgattung (potentiae intellectivae).

Ferner gibt es Vermögen, die sowohl der sensitiven als auch der rationalen Seele angehören. Dies sind zum einen Vermögen der strebenden Vermögensgattung (potentiae appetitivae), wobei der Gegenstand das Ziel des Begehrens darstellt, zum anderen sind es Vermögen der örtlich bewegenden Vermögensgattung (potentiae motivae secundum locum), wobei der Gegenstand der Endpunkt der Bewegung ist.[8]

2.         Der Erkenntnisaufbau

Man muss zwei Differenzen gegeneinander abgrenzen und zunächst einzeln betrachten, um später den Vorgang der Erkenntnis im Ganzen zu sehen. Die erste Differenz ist der Wirkungszusammenhang der Veränderung der leblosen Dinge untereinander gegenüber der Veränderung, die in der sinnlichen Wahrnehmung hervorgerufen wird. Die zweite Differenz beschreibt den Unterschied zwischen sinnlicher und geistiger Wahrnehmung.

Die Differenzen ergeben sich, weil es in der Scholastik Grundsatz war, dass das Aufgenommene im Aufnehmenden ist nach Weise des Aufnehmenden (receptum est in recipiente per modum recipientis), das heißt ein Gegenstand ist in der vegetativen Seele stofflich, in der sensitiven sinnlich und in der rationalen geistig. Weil nun das Außending oder der Gegenstand so in der Seele ist, wie er von ihr aufgenommen wird, musste Thomas die Tätigkeiten der sensitiven und der rationalen Seele in Bezug auf denselben Gegenstand unterscheiden. Die Tätigkeiten der potentiae sensitivae gehen auf Merkmale ihres Gegenstandes, die ihn individuell bestimmen. Die Tätigkeiten der potentiae intellectivae gehen auf Merkmale, die von jeder stofflichen und individuellen Bestimmung frei sind.

  • Der Erkenntnisgegenstand ist der Erkenntniskraft angemessen. (…) Die eine Erkenntniskraft ist Wirklichkeit eines körperlichen Organs, nämlich der Sinn. Deshalb ist Gegenstand eines jeden Sinnesvermögens die Form, sofern sie im körperlichen Stoff vorhanden ist. Und weil dieser Stoff Grund der Vereinzelung ist, erkennt jedes Vermögen des sinnlichen [Seelen-]Teiles nur das Besondere. (…) Der menschliche Verstand endlich (…) ist nicht Wirklichkeit eines Organs, ist aber dennoch eine Kraft der Seele, die Form des Leibes ist (…).[9]

Die ernährende Vermögensgattung hat das aus Seele und Leib Zusammengesetzte als Untergrund. Der menschliche Verstand, welcher der verstehenden Vermögensgattung  angehört, ist nicht die verwirklichende Form eines körperlichen Organs. Der Verstand führt seine Tätigkeit völlig losgelöst vom Körper aus.

Der scheinbare Widerspruch, dass einerseits die sinnfälligen Dinge den Verstand zur Erkenntnis führen, andererseits der Verstand es selbst ist, der sich bestimmen muss, da Stoffliches Unstoffliches nicht direkt bestimmen kann, wird hier aufgelöst:

Der strikt immaterielle Verstand hat die Seele als Untergrund, die Form eines Körpers ist

2.1       Die Differenz der natürlichen und der sinnlichen Veränderung

Während etwas Leblosem kein Vermögen zuteil wird, und der vegetativen Seele keine sinnlichen Vermögen zugesprochen werden, wirkt ein Gegenstand oder eine Beschaffenheit eines Gegenstandes dennoch auf sie ein. Sie werden naturhaft  in ihrem Sein verändert, indem sie die substantielle Form des Verändernden ganzheitlich aufnehmen, wie z.B. der Stein die Wärme. Die Wirkungszusammenhänge der Sinnfälligen Dinge untereinander bewirken demnach noch  keinen Akt der sinnlichen Wahrnehmung.

Indessen erfolgt die sinnliche Erkenntnis zwar ebenso durch den Akt eines Dinges, doch die Veränderung ist nicht die Sinnlichkeit.

  • Nun gibt es aber eine doppelte Veränderung: eine natürliche und eine geistige. Eine natürliche, sofern die Form des Verändernden in das Veränderte dem natürlichen Sein nach aufgenommen wird, wie die Wärme in das Erwärmte. Eine geistige, sofern die Form des Verändernden in das Veränderte einem geistigen Sein nach aufgenommen wird, wie die Form der Farbe in das Auge, das dadurch nicht gefärbt wird. Zur Tätigkeit des Sinnes ist aber die geistige Veränderung erforderlich, damit durch sie ein Abbild der sinnfälligen Form im Sinnesorgan entsteht. Andernfalls, wenn die natürliche Veränderung allein zur Sinneswahrnehmung hinreichen würde, würden alle Naturkörper sinnlich wahrnehmen, während sie verändert werden.[10]

Das Problem der Differenz der beiden Veränderungen tritt hier deutlich hervor. Die sinnliche Veränderung setzt geradezu eine gewisse Geistigkeit voraus.[11]

Wie empfindet und erkennt nun das Sinnenwesen? Es gilt der Grundsatz: receptum est in recipiente per modum recipientis! Der Gegenstand, welcher nicht stofflich, aber der sensitiven Seele gemäß seiner individuellen Bestimmung nach im Sinnenwesen aufgenommen wird, erzeugt in ihm ein sinnliches Erkenntnisbild (species sensibilis). Dieses ist nicht das, was erkannt wird, sondern das, wodurch etwas erkannt wird. Das species sensibilis agiert nicht im Sinne einer Abbildtheorie, vielmehr ist es das verwirklichende Prinzip der Sinnlichkeit.

Diese Erklärung allein reicht aber nicht aus, um die Tätigkeiten des Sinnenwesens ausreichend nachzuvollziehen. Darum geht Thomas einen Schritt weiter.

2.1.1 Die inneren Sinne

Der sensitiven Vermögensgattung gehören nicht nur die Sinne Sehen, Hören, Riechen, Tasten und Schmecken an, welches die äußeren Sinne sind, sondern auch vier innere Sinne, die sich wie folgt herleiten lassen.

Wie oben gezeigt wurde, reicht die natürliche Veränderung nicht für die sinnliche Erkenntnis aus. Der Wirkungszusammenhang zwischen den stofflichen Dingen und der Sinnlichkeit ist nicht empirisch nachzuvollziehen. Es bleibt nur eine philosophische Deutung übrig, die das Phänomen hinreichend erklärt. Den äußeren Sinnen muss eine Kraft zugrunde liegen, um überhaupt tätig sein zu können. Denn was wäre das Sehen, wenn es nicht wahrgenommen würde? Wie könnte ferner die Farbe des Zuckers vom Geschmack unterschieden werden? Der einzelne äußere Sinn kann es nicht. Daraus ergibt sich die Annahme eines den äußeren Sinnen gemeinsamen Untergrundes, der Gemeinsinn (sensus communis) genannt wird. Ein weiterer lässt sich wieder von der Tätigkeit her ableiten.

  • Zum Leben eines vollkommenen Sinnenwesens ist erforderlich, dass es das Ding nicht nur in Gegenwart des Sinnfälligen wahrnimmt, sondern auch in dessen Abwesenheit. Sonst würde das Sinnenwesen, da dessen Bewegung und Tätigkeit auf eine Wahrnehmung hin erfolgt, sich nicht bewegen, um etwas Abwesendes zu suchen, während sich dies sehr deutlich zeigt bei den vollkommenen Sinnenwesen, die sich durch den Raum hin bewegen; sie bewegen sich nämlich auf etwas abwesendes hin, das sie wahrgenommen haben. Das Sinnenwesen muss also durch die sinnliche Seele nicht nur die Erkenntnisbilder der sinnfälligen Dinge aufnehmen, wenn es in ihrer Gegenwart von ihnen verändert wird, sondern sie auch behalten und aufbewahren. (…) Da also das Sinnesvermögen die Wirklichkeit eines körperlichen Organs ist, muss es ein besonderes Vermögen geben, das die Erkenntnisbilder der sinnfälligen Dinge aufnimmt und ein besonderes, das sie behält.[12]

Die aktuell durch die species sensibiles wahrgenommenen Dinge bleiben nach dem Wahrnehmen in der sensitiven Seele zurück, wobei auf den inneren Sinn der Vorstellungskraft (phantasia) geschlossen wird. In Bezug der Wahrnehmung der sinnfälligen Formen wird zwischen den Sinnenwesen Tier oder Mensch kein Unterschied hervorgerufen, da sie in gleicher Weise die Gegenstände in sich aufnehmen.

Die species sensibiles sind für das Tun eines vollkommenen Sinnenwesens jedoch nicht ausreichend. Bestimmte angeborene Verhaltensweisen basieren nicht auf den bisher aufgeführten Vermögen. Dem Nestbau eines Vogels muss ein Vermögen vorausgehen, mittels dessen der Strohhalm oder der Stein als nützlich eingestuft wird oder nicht. Darauf wird das Schätzungsvermögen (vis aestimativa) bezogen.

Des Weiteren ist die Annahme eines Vermögens, welches die Bestimmtheiten, wie nützlich oder unnützlich, behält und bewahrt, gegenüber der phantasia weit dringlicher. Denn während der sensus communis mit dem/den äußeren Sinn(en) ausreicht, um von einem Gegenstand in einen Akt der Wahrnehmung versetzt zu werden, ist es bei der vis aestimativa nicht der Fall. In der Tat ist es eben dieser Umstand, welcher auf ein Vermögen des Behaltens der Bestimmtheiten schließen lässt. Dieses Vermögen wird Gedächtniskraft (vis memorativa) genannt.

2.2       Die Differenz der sinnlichen und geistigen Veränderung

Während die natürliche Veränderung der sinnlichen gegenübersteht, handelt es sich auch hier um zwei grundsätzlich verschiedene Erkenntnisebenen. Die potentiae intellectivae haben anders als die potentiae sensitivae nur die Seele als Untergrund.

  • Diese Verschiedenheit lässt sich, wie folgt, begründen. Verschiedene Seelen werden unterschieden je nach der verschiedenen Stufe, auf der die Tätigkeit der Seele über die Tätigkeit der körperlichen Natur hinaussteigt. Die ganze körperliche Natur ist nämlich der Seele unterworfen und verhält sich zu ihr als Stoff und Werkzeug. Es gibt also eine bestimmte Tätigkeit der Seele, die soweit die Körpernatur überragt, dass sie nicht einmal durch ein körperliches Organ ausgeübt wird. Eine solche ist die Tätigkeit der vernünftigen Seele. Es gibt sodann unterhalb dieser eine andere Seelentätigkeit, die zwar durch ein körperliches Organ, aber nicht durch eine körperliche Beschaffenheit erfolgt, und diese ist die Tätigkeit der sinnlichen Seele.[13]

Das menschliche Erkennen ist zwar ein Vermögen der mit dem Leib verbundenen Seele, seine Tätigkeit ist jedoch völlig immateriell.

Die Materialisten wenden gegen die aristotelisch-thomistische Philosophie das für die Erkenntnis erforderliche Gehirn ein, welches unbezweifelbar stofflich ist, und behaupten, die Erkenntnis spiele sich auf materieller Ebene ab.

Hier ist der Grundsatz wieder zu berücksichtigen, dass das Aufgenommene im Aufnehmenden ist nach Weise des Aufnehmenden, der Thomas diese Ansicht verbietet. Wie oben bei der Differenz der natürlichen und sinnlichen Veränderung gezeigt wurde, sind die äußeren Sinne zwar die Organe der Wahrnehmung, aber nicht die Wahrnehmung selbst. Die Wahrnehmung an sich ist nicht allein auf ein körperliches Organ zurückzuführen, sondern auf die Zusammensetzung von Stoff und Form. Auch das menschliche Gehirn ist ein Organ der Sinnlichkeit, das sich zur Seele als Stoff und Werkzeug verhält. Somit ist für Thomas eine geistige Erkenntnis ohne Gehirn unmöglich. Die menschliche geistige Erkenntnis kommt ohne die Vorgänge innerhalb der sinnlichen Veränderung nicht zustande.

Die potentiae sensitivae stehen den potentiae intellectivae gegenüber, wodurch die zwei Differenzen zustande kommen. Die ersteren stehen zur Außenwelt in einem Akt-Potenz-Verhältnis, das heißt sie lassen sich verändern. Beide Seiten stehen in einem materiellen Verhältnis zu einander und treten problemlos in eine Wechselwirkung. Die potentiae intellectivae sind immateriell und von der sinnfälligen Welt nicht direkt zu beeinflussen. Darum kann die Sinnlichkeit als solche den Verstand nicht aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit führen. Dies ist deshalb nicht möglich, weil der Verstand auf das allgemein Seiende ausgerichtet ist und nicht auf die species sensibiles. Nach Aristoteles und Thomas sind es aber die sinnfälligen Dinge, die den Verstand mittels der Sinne zur Verstandeserkenntnis führen. Wenn nun die geistige Erkenntnis vollzogen werden soll, muss der Verstand zu etwas in Möglichkeit stehen.

  • Der menschliche Verstand (…) ist in Möglichkeit hinsichtlich des Verstehbaren; und im Anfang ist er nach den Worten des Philosophen [Aristoteles] „wie eine Tafel, auf der nichts geschrieben steht“. Das tritt deutlich dadurch in Erscheinung, dass wir im Anfang bloß in Möglichkeit verstehend sind, nachher aber in Wirklichkeit verstehend werden. Es ist also klar, dass unser Denken eine Art Leiden (…) ist. Infolgedessen ist der Verstand ein leidendes Vermögen.[14]

2.2.1    Der tätige Verstand

Hier ist wieder ein philosophischer Schluss zu ziehen. Da der mögliche Verstand (intellectus possibilis) nicht zu den sinnfälligen Dingen in Möglichkeit steht, sondern zu den allgemein verstehbaren Dingen, muss es eine tätige geistige Kraft geben, zu welcher der intellectus possibilis in einem Akt-Potenz-Verhältnis steht. Diese tätige geistige Kraft ist der tätige Verstand (intellectus agens).[15]

  • [Es] wird aber nichts aus der Möglichkeit in die Wirklichkeit geführt, es sei denn durch ein in Wirklichkeit Seiendes, so wie die Sinne in die Wirklichkeit [der Tätigkeit] versetzt werden durch das in Wirklichkeit Sinnfällige. Es war demnach nötig, auf Seiten des Verstandes eine Kraft anzunehmen, welche die Dinge in Wirklichkeit verstehbar macht durch Abziehen der Artformen aus den stofflichen Bedingungen. Und darin liegt die Notwendigkeit für die Annahme des tätigen Verstandes.[16]

Die Annahme des Akt-Potenz-Verhältnisses von intellectus possibilis und intellectus agens ist zwar gerechtfertigt, beantwortet aber noch immer nicht die Frage, wie der intellectus agens zu seinen Erkenntnisinhalten gelangt, um den intellectus possibilis zu verwirklichen.

Die Antwort kann wiederum nur im Verhältnis zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit gefunden werden. Der intellectus agens steht nicht nur zum intellectus possibilis in einem Akt-Potenz-Verhältnis, sondern auch zur Sinnlichkeit, obwohl diese grundsätzlich verschieden sind. Denn das, was die Sinnlichkeit wahrnimmt, ist für den Verstand potentiell verstehbar. Während ein sinnfälliger Gegenstand in der sensitiven Seele als species sensibilis aufgenommen wird, zieht aus ihm der intellectus agens die allgemein verstehbare Form (species intelligibilis). Durch die species intelligibiles ist es nun möglich, die Tafel des intellectus possibilis zu beschreiben.

2.3       Die drei Zustände des Verstandes

Es ist jedoch offensichtlich, dass sich das Erkennen nicht nur in der Gegenwart eines Gegenstandes vollzieht, sondern auch in seiner Abwesenheit, das heißt ohne die Unterstützung des intellectus agens.

Thomas von Aquin zeigt aus Aristoteles einen dreifachen Zustand des intellectus possibilis. Aristoteles unterscheidet einen Zustand der reinen Möglichkeit gegenüber den Erkenntnisbildern (leere Tafel), einen zweiten, in dem der Verstand die species intelligibiles aufnimmt und besitzt. Dazu sagt Thomas, dass der Verstand im Gehaben (habitus) sei. Der dritte Zustand ist der durch die species intelligibiles in die Wirklichkeit versetzte tätige Verstand.

Zum Beispiel erwirbt der Student Wissen, welches ihm durch den möglichen Verstand ermöglicht wird. Das erworbene Wissen wie der Erkenntnisaufbau des Thomas von Aquin oder der nach Kant ist sein Habitus. Denkt der Student an Thomas oder an Kant, wird sein Wissen aus dem Zustand des Habitus verwirklicht.[17]

Die verschiedenen Zustände des Verstandes führen aber nicht zu verschiedenen Vermögen wie bei der Sinnlichkeit. Der phantasia, welche die sinnfälligen Formen aufbewahrt, und der vis memorativa, welche die Bestimmtheiten der sinnfälligen Formen aufbewahrt, entspricht auf geistiger Ebene der Verstand. Er unterscheidet sich nicht wie im sinnlichen Bereich zwischen Vermögen und Vermögen. Anders als der sensus communis mit dem besonderen äußeren Sinn und die vis aestimativa bezieht sich der Verstand auf das allgemein Seiende. Im geistigen Bereich ist demnach nur auf ein Vermögen zu schließen, welches der intellectus possibilis in seinen drei Zuständen ist. Sachlich abgrenzbare Vermögen gibt es nur zwei, nämlich der intellectus possibilis und der intellectus agens.

3.         Einsichten und Folgerungen des thomistischen Erkenntnisaufbaus

Die beiden Differenzen zeigen zum einen die grundlegende Verschiedenheit der sinnlichen und geistigen Erkenntnis, zum anderen die notwendige Verschränkung des intellectus agens zur Sinnlichkeit wie zum intellectus possibilis. In dieser Verschränkung offenbart sich das Wesen der menschlichen Seele. Sie besitzt einerseits den Verstand mit seiner vom Körper losgelösten eigenständigen Tätigkeit, bleibt jedoch mit ihm als seine verwirklichende Form verbunden. Die menschliche Seele ist somit kein reiner Geist, sondern offensichtlich die substantielle Verbindung von Stoff und Form. Der Unsterblichkeitsbegriff bezieht sich nach thomistischer Lehre lediglich auf die Verstandeserkenntnis, da sie unstofflich und selbstständig ist. Die folgende Erläuterung soll dies nochmals verdeutlichen.

Der lebendige Körper stirbt, entzieht man ihm die Nahrung. Die Sinne sterben jedoch nicht, entzieht man ihnen Sinnfälliges. Sie gehen aber zusammen mit dem Körper unter, da sie ohne ihn keine Tätigkeit ausführen können. Der Verstand stirbt nicht, entzieht man ihm die species sensibiles, aber auch nicht, entzieht man ihm den Körper, da er seine Tätigkeiten ohne ihn ausübt.

Die aristotelisch-thomistische Philosophie lehrt die Leib-Seele-Einheit des Menschen. Stoff und Form sind die Grundbestandteile seines Wesens. Der Stoff ist der verwirklichungsmögliche Bestandteil (principium quo potentiale), die Form der verwirklichende Bestandteil (principium quo actuale). Die Erkenntnistätigkeit der anima coniuncta tritt nur in der substantiellen ganzen Leib-Seele-Einheit in Erscheinung.

Diese Einheit ist für das geistige Erkennen eine notwendige Voraussetzung. Während Thomas die menschliche Verstandesseele sozusagen als vom Stoff unabhängig bestimmt, lehrt er in seiner Seelenlehre eine stetige Aufwärtsentwicklung vom rein Körperlichen zum rein Geistigen. Er ging damit philosophiegeschichtlich den goldenen Mittelweg, indem er die menschliche Geistseele weder unterschätzte noch überschätzte. Die menschliche Seele bestimmt er weder als rein körperlich noch als rein geistig. Sie ist weder ganz vom Körper abhängig, wie die sensitive Seele, noch ist sie vollselbständig, denn sie ist bei aller selbständigen Verstandestätigkeit die Form eines Körpers.

4.         Literatur

Die Deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa theologica, Bd. 6, übersetzt und kommentiert von den Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Heidelberg -) Graz – Wien – Köln 1933ff.


Fußnoten

[1] Aristoteles (384-324 v. Chr.) war 20 Jahre Schüler des Platon.

[2] Platon (427-347 v. Chr.).

[3] Avicenna (980-1037 n. Chr.).

[4] Demokrit (um 460-370 v. Chr.) führte Leukipps (5. Jh. v. Chr.) Atomlehre weiter zu einem System des Materialismus.

[5] Thales von Milet (um 624-546 v. Chr.) sah als gemeinsamen Urgrund für alles Seiende das Wasser an. Sein Schüler Anaximander (um 611-546 v. Chr.) bestimmt das Urprinzip abstrakt als Apeiron (das Unbestimmte). Er entfernte sich von seiner zeitgenössischen Ansicht Stoffliches als Prinzip anzunehmen. Für Anaximenes (um 585-525 v. Chr.) war der Urgrund die Luft, also wieder stofflich. Empedokles (um 492-432 v. Chr.) nahm vier Elemente Wasser, Erde, Feuer und Luft in Verbindung mit Liebe und Hass als Bewegungsgrund an.

[6] Die Deutsche Thomas-Ausgabe. Vollständige, ungekürzte deutsch-lateinische Ausgabe der Summa theologica, Buch I, Bd. 6, Q 84,3, übersetzt und kommentiert von den Dominikanern und Benediktinern Deutschlands und Österreichs, (Heidelberg -) Graz – Wien – Köln 1933ff.

[7] STh I 84,2.

[8] Für das Verständnis des Erkenntnisaufbaus sind diese zwei Gattungen nicht relevant.

[9] STh I 85,1.

[10] STh I 78,3.

[11] Die geistige Veränderung innerhalb der sensitiven Vermögensgattung gehört dem Zusammengesetzten an. Sie ist also nicht wie der Verstand vom Körper getrennt aufzufassen.

[12] STh I 78,4.

[13] STh I 78,1.

[14] STh I 79,2.

[15] Thomas vervielfacht den intellectus agens des Avicenna, der nur einen für alle Menschen annahm, und lässt diese Teil einer jeden individuellen menschlichen Seele sein.

[16] STh I 79,3.

[17] Im Bereich des habitus spricht man von der ersten Wirklichkeit, die relativ zur zweiten Wirklichkeit, welche die tatsächliche Ausübung des erworbenen habitus ist, steht.

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