Vom Tiermenschen zum Übermenschen in Nietzsches Konzeption zur Genealogie der Moral

Friedrich Nietzsche Übermensch | Portrait

1. Einleitung

Die Philosophie Nietzsches ist gerade im Hinblick auf die eigenen moralischen Grundhaltungen nicht leicht zu verstehen und zu akzeptieren. Er entlarvt die Wertschätzungen und -vorstellungen einer Gesellschaft als instinktgeleitet (so heißt es bei ihm, dass das bewusste Denken eines Philosophen durch seine Instinkte heimlich geführt werde, JGB 17), so dass sie nicht unbedingt ethisch fundierten Kriterien entsprechen müssen. Vielmehr entsprechen sie dem unbewussten Willen einer konventionellen Ideologie. Dieser moralischen Übereinkunft leistet Nietzsche Widerstand, indem er die gewohnten Wertgefühle als eigentliche Herzenswünsche (JGB 18), die für Wahrheiten gehalten werden, preisgibt und grundsätzliche Fragen zur Genealogie der Moral aufwirft und auf sie bezieht. Dabei, so könnte man sagen, ist seine Methode jenseits von Gut und Böse – jedoch nicht, wie sich herausstellen wird, jenseits von aller Moral überhaupt. Denn Nietzsche möchte die Moral nicht beseitigen, wie man aus dem Titel seiner Schrift voreilig schließen könnte, sondern ihre Herkunft frei von allen Vorurteilen und Meinungen, die zur persönlichen oder gesellschaftlichen Wahrheitsfindung herangezogen werden, herausarbeiten.

Nietzsche sucht den Ursprung der Moral in einer vormoralischen Zeit des TieresMensch“ (GM 297), kämpft gegen die Umwertungen der entsprechenden antiken, vorsokratischen Werte (JGB 67) durch das animal rationale[1] an und stellt eine Zukunft des Menschen in Aussicht, in der dieser als Übermensch[2] die Umwertungen der Werte überwunden haben (GM 336) und der ursprünglichen Moral in seinem praktischen Leben einen Wert beimessen wird. Diesen Aufweis vom Ursprung der Moral beim Tiermenschen bis hin zu ihrer noch ausstehenden idealen Umsetzung in der Lebenspraxis des Übermenschen soll in der vorliegenden Arbeit nachvollzogen werden.[3]

2. Der vormoralische Ursprung beim Tiermenschen

Mit dem Begriff „Tiermensch“ verweist Nietzsche auf die Vorvergangenheit des Menschen im Hinblick auf die Moral. Wenn er den Menschen als ein Tier bezeichnet, geht es ihm jedoch weniger um eine evolutionsbedingte Entwicklung als vielmehr um das praktisch gelebte Verhalten von Lebensmustern, bevor der Mensch die schmerzhafte Sozialisierung (sociale Zwangsjacke,GM 293) und Züchtung des Gewissens durchlebte.[4] Der Blick Nietzsches ruht also nicht auf bereits bestehenden Werturteilen, um daraus grundsätzliche Ableitungen über die Moral zu erstellen,[5] sondern auf dem Lebenselbst, dem Triebleben (JGB 55) des Tiermenschen.

2.1 Das Grundphänomen allen Lebens

Die Untersuchungen in der Philosophiegeschichte vor Nietzsche kreisten von Platon bis Hegel immer wieder um das Problem des eigenen Subjekts (Ichphilosophie), des Objekts (Seinsphilosophie) und des Absoluten (Geistphilosophie), wobei in letzterem Fall der Versuch unternommen wird, Subjekt und Objekt zusammenzudenken. Nietzsche jedoch möchte dieser metaphysischen Vergeistigung nicht folgen.[6] Er setzt an die Stelle des Geistes das „Leben“: Nicht Geist oder Vernunft sind das eigentliche Subjekt, sondern das Leben, genauer das Lebewesen mit seinem Leib.[7] Der Vernunft schreibt Nietzsche lediglich eine instrumentelle Funktion des Lebens zu, deren sich der Lebenstrieb bedient, um sein Potential zu entfalten (Ich glaube (…) nicht, dass ein „Trieb zur Erkenntnis“ der Vater der Philosophie ist, sondern dass sich ein andrer Trieb (…) der Erkenntnis (und der Verkenntniss!) nur wie eines Werkzeugs bedient hat, JGB 20).

Dieser Lebenstrieb (wie jeder Trieb) ist herrschsüchtig (JGB 20) und zeigt sich als Grundphänomen allen Lebens als Wille zur Macht (Vor Allem will etwas Lebendiges seine Kraft auslassen – Leben selbst ist Wille zur Macht,JGB 27). Metaphysische Geistphilosophie und teleologische Prinzipien (JGB 27–28) haben in Nietzsches sinnlich-vitalem „Subjekt“ wenig Bedeutung.[8] Der Vitalismus ist das Zentrum allen Werdens in der Welt, durch den der Wille zur Macht zur Herrschaft drängt. Die Moral ist aus diesem Grund nicht unter einer geistphilosophischen Methode dingfest zu machen, sondern innerhalb des Lebens, in dem also das Leben als Leben zur Macht will ((…) er [der lebendige Körper] wird der leibhafte Wille zur Macht sein müssen, er wird wachsen, um sich greifen, an sich ziehn, Übergewicht gewinnen wollen, – nicht aus irgend einer Moralität oder Immoralität heraus, sondern weil er lebt, und weil Leben eben Wille zur Macht ist, JGB 207–208).

2.2 Moralität bei Pflanze, Tier und Tiermensch

Der Wille zur Macht im Vitalismus Nietzsches hat für das Verständnis der Genealogie der Moral weitreichende Folgen. Wie oben gesagt, lässt Nietzsche den Ursprung und die Begründung der Moral nicht allein im zwischenmenschlichen Bereich der Vernunft zu. Den Ursprung für alle Moralität findet er im Vitalismus und somit in jedem einzelnen Lebewesen. Das offenbart sich beispielsweise bei einer Brombeerranke an ihren Stacheln. Nietzsche sieht keinen Zusammenhang zwischen der Nützlichkeit der Stacheln und deren Entstehung (Wenn man die Nützlichkeit von irgend welchem physiologischen Organ (…) noch so gut begriffen hat, so hat man damit noch nichts in Betreff seiner Entstehung begriffen (…), GM 314). Ein Stachel, eine Tatze oder eine Hand entstehen demnach nicht aufgrund ihrer (metaphysischen) Zweckmäßigkeit, sondern lediglich aufgrund von Überwältigungsprozessen (GM 314) ihres Willens zur Macht. Wenn man sich jedoch einen teleologischen Progressus vorstellen wollte, so wäre die interessante Frage nicht unberechtigt, woher die Pflanze denn „wisse“, dass es empfindsame Wesen gibt, denen sie Schmerzen zufügen kann. Ursache und Nützlichkeit (GM 313) eines Dinges hängen Nietzsche zufolge also nicht voneinander ab. Wichtig in diesem Zusammenhang für das Verständnis der Konzeption der Moral Nietzsches ist, dass der Wille zur Macht keine Anpassung (GM 316) eines Dinges ist, vielmehr folgt die Anpassung dem Willen zur Macht. Die ethisch relevante Folge dieses Gedankenganges stößt bei den heutigen modernen Menschen (GM 256) auf Missmut und Unbehagen, scheint er doch alle überkommenen Werte über Bord zu werfen: Das Recht des Stärkeren hat die Oberhand über alles Schwache und darf bzw. kann nicht als verwerflich angesehen werden (Dass die Lämmer den grossen Raubvögeln gram sind, das befremdet nicht: nur liegt darin kein Grund, es den grossen Raubvögeln zu verargen, dass sie sich kleine Lämmer holen, GM 278-279).[9]

2.3 Die ursprünglichen Werte „Gut und Schlecht“

Betrachtet man die Entwicklung eines Dinges in der Natur, so lässt sich sagen, dass etwas „gut“ ist, weil es sich auf jene oder auch auf andere Weise in seinem Dasein in der Welt durchgesetzt hat. Um diesen Umstand plausibel zu machen, sei ein Fisch angeführt, der zum Atmen Kiemen benutzt, während ein Lebewesen an Land hierfür Lungen benötigt. Das Lebensumfeld, das für das jeweilige Lebewesen ein Gutes darstellt, ist für das jeweils andere etwas Schlechtes. Das Lebensumfeld des Wassers oder der Luft spielt demnach für die Wertesetzung „gut oder schlecht“ keine Rolle. Allein die Durchsetzung des Willens zur Macht stellt einen Wert dar: das lebensbejahende Streben nach Gesundheit, Stärke, Macht, Gewalt, und dergleichen unter Durchsetzung der hierfür relevanten Bedingungen wie Kiemen oder Lungen. Nietzsche sieht deshalb den Wert oder den Unwert einer Handlung in den Folgen einer Handlung, die für ein individuelles Lebewesen notwendig sind, und nicht in der Handlung selbst oder sogar in der Herkunft der Handlung (JGB 50). Der Wert einer Handlung ist allein vom Willen zur Macht her zu bestimmen, also auch vom Nicht-Absichtlichen an einer Handlung (JGB 51). Die Tiermenschen der vormoralischen Periode (JGB 50) sind daher auch unter Beachtung ihrer rücksichtslosen (d. h. nicht absichtlichen) und tatkräftigen Aneignung von immer mehr Macht auf Kosten anderer, kleinerer Mächte (GM 315) nicht zu verwerfen.

Aber auch innerhalb der Tiermenschen entwickelten sich naturbedingt graduelle Unterschiede einer möglichen Auslebung der Macht, wie sie in Bezug zu anderen Lebensformen und auch bei diesen untereinander zu finden ist.[10] Daraus ergab sich das Pathos der Distanz, das höhere und niedere Menschen (GM 259) voneinander schied. Die Wertschätzung einer Handlung innerhalb dieser Distanz beruhte ganz und gar auf der Auslebung der Macht der Stärkeren gegenüber den Schwächeren, nicht etwa auf einer eventuellen Rücksichtnahme den Schwächeren gegenüber. Der Stolz der Stärkeren lag auf ihrem Vorrecht, sie waren die Guten, die Schwächeren aber die Schlechten ((…) das Urtheil „gut“ rührt nicht von Denen her, welchen „Güte“ erwiesen wird! Vielmehr sind es „die Guten“ selber gewesen, das heisst die Vornehmen, Mächtigen, Höhergestellten und Hochgesinnten, welche sich selbst und ihr Thun als gut, nämlich als ersten Ranges empfanden und ansetzten, im Gegensatz zu allem Niedrigen, Niedrig-Gesinnten, Gemeinen und Pöbelhaften, GM 259). Der Herkunft des Werturteils (GM 260) über das Gute und Schlechte liegt eine natürliche Werteordnung des Stärkeren zugrunde. Allerdings darf die Werteordnung des höheren Menschen nicht so verstanden werden, als sprächen sie allem unter ihnen Befindlichen seinen Wert ab, z. B. einem Tier das Gutsein. Schlecht im eigentlichen Sinne und im Gegensatz zum Guten wird erst dann jemand oder etwas, wenn es dem Willen zur Macht des Stärkeren hinderlich im Wege steht und seine Entfaltung behindert.

3. Die moralische Wertungsweise beim animal rationale

Im Unterschied zum Tiermenschen findet beim vernunftbegabten Menschen[11] eine Umwertung aller antiken Werte (JGB 67) statt.[12] Eine Auflehnung gegen das Wüten der stärkeren Tiermenschen beginnt, eine schmerzhafte Sozialisierung des Menschen, ein Gedächtnis machen (GM 295), um dem Menschen Verantwortlichkeit (GM 293/294) für seine Handlungen übertragen zu können; kurz: Es beginnt die Züchtung des Gewissens![13]

3.1 Die umgewerteten Werte „Gut und Böse“

Alles, was sich innerhalb des Pathos der Distanz am unteren, niederen Ende befindet, schwach und unterdrückt der Herrschaft der höheren Menschen preisgegeben ist, wendet sich nun gegen das rücksichtslose Walten der Herrenmoral (JGB 208). Allerdings wendet sich die aufkommende Moral des Ressentiment (GM 274) nicht vornehmlich gegen die Herrenmenschen im Sinne des rücksichtslosen Willens zur Macht, denn sonst wären die niederen Aufständischen selbst starke und zur Herrschaft geborene Menschen,[14] vielmehr, wie oben gesagt, wendet sie sich gegen die „Moral“ der höheren Menschen. Im Pathos der Distanz, zwischen der Herren- und Sklavenmoral (JGB 208), tut sich nun ein Sklavenaufstand in der Moral (JGB 117) auf. Möglich wird dies durch die ungeheure Masse der niederen und schwächeren Menschen. Es findet, wie Nietzsche sagt, eine Herdenbildung (GM 383) statt, die, durch den Platonismus vorbereitet[15], von den Juden[16] über das Christentum[17] bis zur Demokratie reicht (GM 269–270).

Das Ressentiment gegen die Herrenmoral besteht aufgrund der Kräfte des reaktiven Menschen mitsamt seinen reaktiven Affekten[18] (GM 310/311), denn ohne die Moral der höheren Menschen könnte sich das Ressentiment gar nicht verwirklichen. Es ist auf eine Außenwelt angewiesen und deshalb im Gegensatz zur aktiven Kraft der Herrenmoral eine reaktive Kraft (Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“: und dies Nein ist ihre schöpferische That, GM 270–271). Das Ressentiment wird also schöpferisch und bringt Werte hervor, indem sie „Nein“ sagt zur Herrenmoral und so den bösen Feind (GM 274) geschaffen hat. So ist nach Sicht des Ressentiments der oben aufgeführte Raubvogel böse, während das schwächere, dem Wohl des Raubvogels unterworfene Lamm gut ist. Die Umwertung aller vornehmen Werte vollbrachten demnach reaktive Kräfte. Sie werteten die ursprünglichen Werte „Gut und Schlecht“ in „Gut und Böse“ um, d. h., das herrenmoralische ‚Gut‘ wird zum sklavenmoralischen ‚Böse‘, das herrenmoralische ‚Schlecht‘ wird zum sklavenmoralischen ‚Gut‘.

3.1.1 Die qualitative Differenz der aktiven und reaktiven Kräfte

Das ‚Nein‘ des Ressentiments zu den ursprünglichen Werten Gut und Schlecht beinhaltet eine Ablehnung allen irdischen Daseins. Alles Gesunde, Mächtige, Kraftvolle, alles sich zur lebensfrohen Auslebung seiner Macht Entwickelte wird vom Werte umschaffenden Hass (GM 268)der niederen und versklavten Menschen moralisch verworfen. In seiner Abkehr von der Herrenmoral findet die Ressentiment-Kultur Zuflucht in einer religiösen Welt, die das wirkliche Leben verwirft und sich dadurch eine Milderung des Leidens (GM 377) erhofft. Sie schafft sich hierfür eine metaphysisch-religiöse Welt, in welcher Gott der stofflich-sinnlichen Welt entgegensteht. In dieser Sichtweise des Herdeninstinktes (GM 260) sieht Nietzsche einen Willen gegen das Leben (GM 252). Über Leib und Welt setzt die Sklavenmoral ein asketisches Ideal (GM 339), was für Nietzsche so viel bedeutet wie den Schein über das Sein, das Nichts über das Leben zu setzen. Der Wille zum Leben spielt in der Moral des Herdeninstinktes keine Rolle mehr, es ist ein vergeistigter Wille zum Nichts (GM 368). Mit dieser reaktiven Kraft im asketischen Ideal agiert das Ressentiment nihilistisch (GM 406) im Gegensatz zur lebensbejahenden Moral des von Nietzsche favorisierten aktiven Herrenmenschen.

Reaktiv ist der Herdenmensch im Gegensatz zu den höheren Menschen der Herrenmoral, weil er im Unterschied zu diesen seine Kraft nicht aktiv freigibt und einsetzt, wie er sie für ein gesundes und starkes Leben auf der Erde aufwenden müsste. In seinem ohnmächtigen Hass trennt er vielmehr den Willen zur Macht von dem, was er eigentlich kann und tun sollte, und setzt seine Kraft somit reaktiv gegen die ursprüngliche Werteordnung ein. Darin besteht die qualitative Differenz der beiden Kräfte, indem jene auf das Starke, Gesunde und Lebensvolle hin ausgerichtet ist, diese aber sich selbstzerstörend gegen sich selbst wendet.[19]

3.2 Methode und Organisation des Ressentiments

Um die Werte Gut und Schlecht der Herrenmoral im Sinne der Herdenmenschen umzukehren, war eine Zähmung des Menschen (GM 366) notwendig. Denn was der ehemals vornehme Mensch (GM 272) im Zuge seines gesunden Willens zur Macht alles an Grausamkeiten verübte, verdaute er nicht anders, als er eine Speise verdaute, nämlich unbewusst, d. h. vergesslich in Bezug auf seine furchtbaren Taten (Vergesslichkeit ist (…) [ein] im strengsten Sinne positives Hemmungsvermögen, dem es zuzuschreiben ist, dass was nur von uns erlebt, erfahren, in uns hineingenommen wird, uns im Zustande der Verdauung (man dürfte ihn „Einverseelung“ nennen) ebenso wenig in’s Bewusstsein tritt, als der ganze tausendfältige Prozess, mit dem sich unsre leibliche Ernährung, die sogenannte „Einverleibung“ abspielt, GM 291). Das Ressentiment begegnete diesem vergesslichen Tier (GM 292) mit der sozialen Zwangsjacke: der schmerzhaften Sozialisierung des Menschen. An diesem Punkt erweist sich für Nietzsche die eigentliche Grausamkeit des Menschen[20]: Sie zeigt sich in der Methode der Zähmung des menschlichen Raubtieres (GM 372) zu einem animal rationale undwar mit der Anzüchtung eines Gedächtnisses für Verantwortung[21] verbunden. Das Gute der Herrenmoral wurde als das Böse in die Schuld (GM 297) dessen gerechnet, der sich noch nicht berechenbar (GM 292) und verantwortungsbewusst in den Verbund einer Gesellschaft einfügen ließ.

Als Repräsentanten und übergeordnete Organisation einer solchen Gesellschaft führt Nietzsche das aus dem jüdischen Geist entsprungene Christentum (JGB 66) an. Geführt von seinen asketischen Priestern (GM 360/361), hat es dem Tiermenschen das schlechte Gewissen gegenüber ihrem Gott angezüchtet (Die „Sünde“ – denn so lautet die priesterliche Umdeutung des thierischen „schlechten Gewissens“ (der rückwärts gewendeten Grausamkeit), GM 389), also dem vergesslichen Tier Mensch der Vorsokratik, der sich selbst noch den Göttern ebenbürtig fühlte.[22] Die asketischen Priester nennt Nietzsche eine paradoxe und lebensfeindliche Spezies (GM 363), negieren sie doch in ihrer Abkehr vom wirklichen Leben alles natürliche Dasein, das als Wille zur Macht für sie Leiden (GM 303) bedeutet.[23] Das Leiden aber wollen sie ausschalten und agieren so selbstwidersprüchlich und deshalb reaktiv gegen das Leben selbst ((…) ein asketisches Leben ist ein Selbstwiderspruch: hier herrscht ein Ressentiment sonder Gleichen, das eines ungesättigten Instinktes und Machtwillens, der Herr werden möchte, nicht über Etwas am Leben, sondern über das Leben selbst, über dessen tiefste, stärkste, unterste Bedingungen, GM 363). Der asketische Priester führt das Ressentiment auf dem Weg der Lebensverneinung ein. Er überzeugt den Herdenmenschen vom asketischen Ideal (GM 339), indem er mit seiner Herrschaft über Leidende (GM 372) seinen im Vergleich zu den schwächeren, den dem Herdeninstinkt unterliegenden Menschen stärkeren Willen einsetzt, um den Instinkt der Schwachen (Schwäche-Instinkt, GM 384), der zur Herdenbildung (GM 383) neigt, zu befriedigen. Der Drang zur Herdenbildung kann aber nur auf der Grundlage der Nächstenliebe (GM 384) erfolgreich verlaufen,[24] zu deren Auswirkung die Betäubung (GM 385) des leidenden Daseins zählt. Die Klugheit des Priesters besteht nun darin, dass er den sklavenmoralischen Instinkt, der die Herdenbildung will, so organisiert, dass der Verdruss des Einzelnen durch die Lust am Gedeihen der Gemeinde ersetzt wird (GM 384).

3.2.1 Das asketische Ideal

Die Methode und Organisation des Ressentiments sieht Nietzsche nach dem oben Gesagten in einem großen Maße in der Religion, die dem mit Schuldgefühlen geplagten Menschen eine metaphysische Hintertür bietet. Hinter der eigentlichen Welt steht für die reaktiven Menschen des Christentums Gott, mit dem am Kreuze der Sklavenaufstand in der Moral die Umwertung aller antiken Werte (JGB 67) vollzog. Das asketische Lebensideal setzt Leib und Leben zum Schein herab und appelliert an kontradiktorische Begriffe wie reine Vernunft, absoluter Geist oder Erkenntnis an sich (GM 365),[25] um den Ekel und das Mitleid am Menschen (GM 368) der Sklavenmoral im irdischen Dasein für die Herdenmenschen ertragbar zu machen. Der asketische Priester macht sich hierfür als Hirt den Schutz- und Heilinstinkt der an sich leidenden Herde zunutze, der Herde, die das Leid in der Welt und an sich selbst nicht will, weil sie ein degeneriertes Leben (GM 366) führt. Sie will weg von allem leiblichen Leid hin zur Leidlosigkeit, d. h. zur Erlösung (GM 380) aus dem erdengebundenen Dasein. Dieses „Wollen“ stellt sich in Nietzsches System des Vitalismus als ein Wille zum Nichts heraus (Gesetzt, dass diese beiden [Ekel und Mitleid] eines Tages sich begatten, so würde unvermeidlich sofort etwas vom Unheimlichsten zur Welt kommen, der „letzte Wille“ des Menschen, sein Wille zum Nichts, der Nihilismus, GM 368), denn wenn das asketische Ideal über Leib und Lebenswille gesiegt hat, geht die Sklavenmoral an sich selbst zugrunde. Der Sinn des Lebens, den das asketische Ideal dem Menschen gegeben hat, ein leidendes und schuldhaftes Dasein vor Gott, damit der reaktiv schwache Mensch sein Leiden am Problem seines Seins und Sinns erträgt, geht an der Bewusstwerdung des Willens zur Wahrheit[26] (GM 400) zugrunde[27] (Was aber zu ihm zwingt, jener unbedingte Wille zur Wahrheit, das ist der Glaube an das asketische Ideal selbst, wenn auch als sein unbewusster Imperativ, man täusche sich hierüber nicht, – das ist der Glaube an einen metaphysischen Werth, einen Werth an sich der Wahrheit, wie er allein in jenem Ideal verbürgt und verbrieft ist (er steht und fällt mit jenem Ideal), GM 400).

Es darf jedoch bei aller Lebensverneinung des Ressentiments nicht vergessen werden, dass Nietzsche auch den reaktiven Kräften einen Willen zur Macht zuschreibt. Allerdings ist dieser Wille gegenüber dem des Menschen der Herrenmoral eine pervertierte Form des Willens zur Macht.[28] Der Herdenmoral liegt ebenso wie der Herrenmoral letztlich ein Wille zugrunde, der nicht anders kann als „wollen“, und ist er noch so reaktiv in seiner Ausrichtung auf alles Lebenserhaltende.[29] Das Wollen dieser Moral, der Kunstgriff, mit dem das asketische Ideal das Leben schließlich bejaht ((…) das asketische Ideal ist ein Kunstgriff in der Erhaltung des Lebens, GM 366), begründet am Ende seinen eigenen Niedergang, d. h. beim Christentum im Glauben an Gott den Tod ihres eigenen Glaubens, den Tod Gottes ((…) jener Christen-Glaube, der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist … Aber wie, wenn gerade dies immer mehr unglaubwürdig wird, wenn Nichts sich mehr als göttlich erweist, es sei denn der Irrthum, die Blindheit, die Lüge, – wenn Gott selbst sich als unsre längste Lüge erweist?, GM 401). Das Ressentiment wendet sich letztlich, wie es auch an einem Krebsgeschwür an der Spitze seines reaktiven Wirkens im gesunden Körper zu beobachten ist, gegen sich selbst, weil alles Äußere, alles, wogegen es sich wenden kann, nicht mehr existiert (Während alle vornehme Moral aus einem triumphirenden Ja-sagen zu sich selber herauswächst, sagt die Sklaven-Moral von vornherein Nein zu einem „Ausserhalb“, zu einem „Anders“, zu einem „Nicht-selbst“: und dies Nein ist ihre schöpferische That, GM 270).

Worauf es Nietzsche bei diesem Gedankengang besonders ankommt, ist das Wollen selbst, der unbedingte Grundwille des Geistes[30] (JGB 167) des Ressentiments, den der asketische Priester seiner Herde vorlebt (Dass aber überhaupt das asketische Ideal dem Menschen so viel bedeutet hat, darin drückt sich die Grundthatsache des menschlichen Willens aus, sein horror vacui: er braucht ein Ziel, – und eher will er noch das Nichts wollen, als nicht wollen, GM 339).

3.3 Der Sieg des Ressentiments

Die Umwertung aller natürlichen Werte des Tiermenschen durch das animal rationale, das Tier, das sich zum Zweck der Zähmung im Staat eingesperrt hat (GM 332), damit es ein Gewissen bekommt, d. h. ein schlechtes Gewissen durch das Gefühl der Schuld (GM 318) vor Gott und dem Mitmenschen, mündet nun in den Sieg des Reaktiven über alle vornehme Moral (GM 270). Dies ist die dritte Epoche nach der des Tiermenschen mit seiner natürlichen Werteordnung und der des Sklavenaufstandes in der Moral, die durch den Sieg des Ressentiments bestimmt ist. In der Geschichte der Philosophie verlaufen diese Epochen von den Vorsokratikern über Platon bis Kant und Hegel. Die dritte Epoche beginnt mit der Aufklärung, die durch den verstärkten Einsatz der eigenen Vernunft gekennzeichnet ist.[31] Den modernen Menschen (GM 301) dieser Zeit sieht Nietzsche als die Abkupferung und den Ausdruck des Christentums an, das er in den modernen Ideen (GM 408) wie Demokratie, Sozialismus, Schopenhauers Pessimismus und Nihilismus oder Kants kategorischen Imperativ ausfindig macht.[32]

Der Wille zur Wahrheit setzte das Nichts über das Leben und verfällt an seiner Dekadenz nicht nur hinsichtlich der ursprünglichen Moral des höheren Menschen, sondern auch ihrer eigenen Ressentiment-Kultur, die, alles Weltliche verneinend, keinen Halt mehr hat an dem, wogegen sie ankämpfte. Für das vitalistische System Nietzsches bedeutet das die Unterbindung der Wiederkehr des Gleichen durch den Nihilismus der reaktiven Kräfte und die Möglichkeit der Weiterentwicklung des Menschen zum Übermenschen.[33]

4. Einsichten in die Moral des Übermenschen

Der Wille zur Macht begründet genealogisch die Moral beim Tiermenschen und beim animal rationale. Als ein immoralistischer Trieb (JGB 19–20) strebt er zu seiner Verwirklichung im lebendigen Dasein; im Falle des Tiermenschen wird er noch in seinem ursprünglichen, vormoralischen Ursprung ausgelebt, im Falle des animal rationale jedoch schlägt er aufgrund der vitalen Unterlegenheit gegenüber dem Wüten des Tiermenschen in ein Ressentiment um. Nietzsche untersucht diesen Vorgang und nennt ihn die Morphologie und Entwicklungslehre des Willens zur Macht (JGB 38) und unterschied hierbei wie gesehen grundsätzlich zwei Arten der Moral: die Herren- und die Sklavenmoral. Im Folgenden soll einer genaueren Betrachtung unterzogen werden, inwiefern Nietzsche eine Überwindung des Menschen – und zwar beider Arten der Moral! – zugunsten des Übermenschen fordert ((…) auch das theilweise Unnützlichwerden, (…) kurz der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus: als welcher immer in Gestalt eines Willens und Wegs zu grösserer Macht erscheint (…) und immer auf Unkosten zahlreicher kleinerer Mächte durchgesetzt wird. Die Grösse eines „Fortschritts“ bemisst sich sogar nach der Masse dessen, was ihm Alles geopfert werden musste; die Menschheit als Masse dem Gedeihen einer einzelnen stärkeren Species Mensch geopfert – das wäre ein Fortschritt …,GM 315). Der Gedanke des Übermenschen steht hierbei in direktem Bezug zu Nietzsches philosophischem Entwurf der ewigen Wiederkehr des Gleichen.

4.1 Die ewige Wiederkehr des Gleichen

Die Züchtung des Gewissens, um der Vergesslichkeit des Tiermenschen entgegenzuwirken, ist die lange Geschichte von der Herkunft der Verantwortlichkeit (GM 293); das Tier Mensch hat sich im Herdenverbund zu einem animal rationale herangezüchtet, das sich leere Versprechungen gibt (GM 293). Wirklich „versprechen dürfen“ darf nach Nietzsche aber nur der Übermensch, der Mensch, der sich von allen ideologischen Konventionen des animal rationale befreit hat und deshalb weiß, was moralisch vertretbar ist. Die Befreiung von allen überkommenen Konventionen ist in Nietzsches Worten die Befreiung von der Sittlichkeit der Sitte und der sozialen Zwangsjacke (Stellen wir uns dagegen an’s Ende des ungeheuren Prozesses, dorthin, wo der Baum endlich seine Früchte zeitigt, wo die Societät und ihre Sittlichkeit der Sitte endlich zu Tage bringt, wozu sie nur das Mittel war: so finden wir als reifste Frucht an ihrem Baum das souveraine Individuum, das nur sich selbst gleiche, das von der Sittlichkeit der Sitte wieder losgekommene, das autonome übersittliche Individuum (denn „autonom“ und „sittlich“ schliesst sich aus), kurz den Menschen des eignen unabhängigen langen Willens, der versprechen darf – (…), GM 293). Sieht man jetzt vom Sieg der reaktiven Kräfte des Ressentiments ab, das durch seinen schöpferischen Nihilismus die ewige Wiederkehr des Gleichen unterbindet, so gerät der Übermensch in den Blick, der genau diese ewige Wiederkehr des Gleichen bejaht und will, weil eben diese Wiederkehr das Leben mitsamt seinem Willen zur Macht kennzeichnet.

4.2 Die moralisch-qualitative Differenz des Übermenschen zum Tiermenschen

Die Entwicklung des vormoralischen Ursprungs des Tiermenschen wird nun dahin gehen, dass der Wille zur Macht nicht mehr nur bedenken- und rücksichtslos gelebt wird, sondern dass nach der Überwindung der Sittlichkeit der Sitte der Übermensch die Moral im Hinblick auf ihre Genealogie mit wirklicher Verantwortung gegenüber allem irdischen Sein im tatsächlichen Leben umsetzt. Die Moral ist eben nicht das bloße Treiben des frei umherschweifenden Tiermenschen (GM 322), der lediglich lebensbejahend und allein deshalb schon legitim seinen Willen zur Macht auslebt. Vielmehr spricht Nietzsche der Moral durchaus einen Wert zu – zumindest wenn sie in ihrer herrenmoralischen Form beim Übermenschen zum Tragen kommt ((…) wer aber einmal hier hängen bleibt, hier fragen lernt, dem wird es gehen, wie es mir ergangen ist: – eine ungeheure neue Aussicht thut sich ihm auf, eine Möglichkeit fasst ihn wie ein Schwindel, jede Art Misstrauen, Argwohn, Furcht springt hervor, der Glaube an die Moral, an alle Moral wankt, – endlich wird eine neue Forderung laut. Sprechen wir sie aus, diese neue Forderung: wir haben eine Kritik der moralischen Werthe nöthig, der Werth dieser Werthe ist selbst erst einmal in Frage zu stellen – (…), GM 253). Der Wert der herdenmoralischen Werte ist „nichts“ wert, denn ihn entlarvte Nietzsche in der Sittlichkeit der Sitte des Herdeninstinktes als selbstzerstörerisch, weil er lebensverneinend wirkt und letztlich nur aufgrund einer Konvention zum Ausdruck und Durchbruch kam. Es waren die Werte des Mitleids und der Mitleidsmoral (GM 252), die dem Fortschritt des animal rationale und somit ihrer eigenen Überwindung hin zum Übermenschen im Wege standen, und so wurde gerade ihre Moral zur Gefahr und verhinderte eine an sich mögliche höchste Mächtigkeit und Pracht des Typus Mensch (GM 253).

Mit der vehementen Ablehnung der Mitleidsmoral will Nietzsche keineswegs ausdrücken, dass die Herrenmoral nicht zum Mitleiden bestimmt sei. Es ist das Mitleid im Sinne der Nächstenliebe des Christentums, das Nietzsche der lebensfeindlichen Moral zuschreibt (Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag, – und das asketische Ideal bot ihr einen Sinn!, GM 411). Nihilistisch wirkt die Mitleidsmoral des Christen, weil dieser mit Seinesgleichen leidet, weil er ein Mitgefühl für den entwickelt, der aus seiner Not eine Tugend macht, indem er das Leiden umdeutet in seine eigenen Schuld-, Furcht- und Strafgefühle (GM 390) und sich hierfür dem asketischen Priester unterwirft. Dieses Mitleiden ist aus der Sicht der Herrenmoral „schlecht“, während es dem Übermenschen im Gegensatz zum Tiermenschen tatsächlich möglich ist mitzuleiden. Er kann und will es sogar, denn im Eigentlichen gebietet es der Wille zur Macht selbst. Betrachtet man den gesunden Willen zur Macht im vormoralischen Ursprung beim Tiermenschen, so erkennt man dessen uneingeschränkte aktive Kraft, die auf die Lebenserhaltung und -vermehrung ausgerichtet ist. Sperrte man einen solchen ein, oder auch ein Tier, oder entzöge man einer Pflanze bestimmte lebenserhaltende Bedingungen, so wird man bei allen dreien nicht im Geringsten einen Zusammenhang zwischen Leiden und Schuld (Leidens-Causalität GM 390) ausfindig machen können, wie es beim Menschen des Ressentiments der Fall ist (Der Mensch, an sich selbst leidend, irgendwie, jedenfalls physiologisch, etwa wie ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu? begehrlich nach Gründen – Gründe erleichtern –, begehrlich auch nach Mitteln und Narkosen, beräth sich endlich mit Einem, der auch das Verborgene weiss – und siehe da! er bekommt einen Wink, er bekommt von seinem Zauberer, dem asketischen Priester, den ersten Wink über die „Ursache“ seines Leidens: er soll sie in sich suchen, in einer Schuld, (…) er soll sein Leiden selbst als einen Strafzustand verstehn …,GM 389).

Hier ist es, wenn Nietzsches Genealogie zur Moral richtig verstanden werden soll, wichtig zu sehen, dass der Übermensch nicht darauf aus ist, sich alles Schwächere, alles weniger Vornehme zu unterwerfen und sich nicht um deren Belange zu kümmern, wie es beim Tiermenschen der Fall war.[34] Vielmehr will Nietzsche darauf hinaus, dass der Übermensch den Willen zur Macht, wenn er frei von jeglicher Ressentiment-Kultur ist, zu schätzen weiß – und das nicht nur im Falle einer Gleichrangigkeit. Alles Ja-Sagende, alles Lebensbejahende, wie auch gerade ein Thier, das in den Käfig gesperrt ist, unklar, warum, wozu?, hat einen gesunden Willen zur Macht, falls es nicht wie das animal rationale weiter nach Gründen seines Elends fragt. Dieses Fragen findet sich beim Übermensch nicht, ebenso wenig wie beim Tier oder bei der Pflanze: Sie alle „wollen“ die ewige Wiederkehr des Gleichen, auch dann, wenn dieses Wollen unbewusst stattfindet,[35] weil es das ist, was der gesunde Wille zur Macht „kann“. Zerstörerisch geht der Übermensch nur gegen die reaktiven Kräfte vor, den Willen zur Macht an sich achtet er aber in jedem Lebewesen, weil er sein Leben und das Sein und das Leben überhaupt immer wieder in der ewigen Wiederkehr des Gleichen will: Ansonsten strebte er auf das Nichts zu.

Ein Mann, der sagt:

„das gefällt mir, das nehme ich zu eigen und will es schützen und gegen Jedermann vertheidigen“; ein Mann, der eine Sache führen, einen Entschluss durchführen, einem Gedanken Treue wahren, ein Weib festhalten, einen Verwegenen strafen und niederwerfen kann; ein Mann, der seinen Zorn und sein Schwert hat, und dem die Schwachen, Leidenden, Bedrängten, auch die Thiere gern zufallen und von Natur zugehören, kurz ein Mann, der von Natur Herr ist, – wenn ein solcher Mann Mitleiden hat, nun! dies Mitleiden hat Werth! (JGB 235–236).

Literatur

Textausgabe

Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München9 2007.

Sekundärliteratur

Colli, G. (1968), „Nachwort“, in: Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe, Bd. 5, hrsg. von G. Colli und M. Montinari, München 92007, 413–421.

Kaulbach, F. (1980), Art. „Leib, Körper“, in: HWP 5, 173–185.

Köhler, G. (1973), Nietzsche und der Katholizismus, Diss. Fulda.

Margreiter, R. (1988), Art. „Jenseits von Gut und Böse“, in: Lexikon der philosophischen Werke, hrsg. von F. Volpi und J. Nida-Rümelin, Stuttgart, 367–368.

Ries, W. (2008), Nietzsches Werke. Die großen Texte im Überblick, Darmstadt.

Zitierweise und Abkürzungen

Band 5 der angegebenen Textausgabe enthält die Schriften Jenseits von Gut und Böse (JGB) und Zur Genealogie der Moral (GM). Zitiert wird unter Angabe der Abkürzung und der Seitenzahl. Nietzsches Schrift Also sprach Zarathustra (Z) wird nur in Bezug auf das Werk von Wiebrecht Ries zur Sprache kommen.


[1] Als Grundfrage der zweiten Abhandlung von GM stellt W. Ries die Frage nach der Entstehung des animal rationale aus dem „Tier“ Mensch heraus. Damit verbunden ist die Sozialisierung des Menschen und die Übernahme von Verantwortung in einem gemeinschaftlichen Verbund (Ries 2008, 118): „Ein Thier heranzuzüchten, das versprechen darf – ist das nicht gerade jene paradoxe Aufgabe selbst, welche sich die Natur in Hinsicht auf den Menschen gestellt hat? Ist es nicht das eigentliche Problem vom Menschen?“ (GM 291)

[2] Den Begriff „Übermensch“ benutzt Nietzsche nicht in JGB und GM. An der hier angegebenen Stelle (GM 336) verwendet er Ausdrücke wie der erlösende Mensch, Antinihilist oder Besieger Gottes.

[3] Die Idee des Übermenschen behandelt Nietzsche vor allem in seiner Schrift Also sprach Zarathustra (Bd. 4 der im Literaturverzeichnis angegebenen Ausgabe). Die vorliegende Arbeit verfolgt in erster Linie die Absicht, die Entwicklung der Moral innerhalb des Menschen darzustellen. Die Moral im Sinne des Übermenschen wird aber dahingehend gedeutet, wie sie sich in Bezug auf JGB und GM erschließen lässt. Auch Nietzsche verweist in diesem Sinne auf Zarathustra: „Aber was rede ich da? Genug! Genug! An dieser Stelle geziemt mir nur Eins, zu schweigen: ich vergriffe mich sonst an dem, was einem Jüngeren allein freisteht, einem ‚Zukünftigeren‘, einem Stärkeren, als ich bin, – was allein Zarathustra freisteht, Zarathustra dem Gottlosen …“ (GM 337).

[4] „Schmerzhaft“ ist die Sozialisierung, weil für die Züchtung des Gewissens eine Mnemotechnik nötig ist, die weh tut (man brennt Etwas ein, damit es im gedächtniss bleibt: nur was nicht aufhört, weh zu thun, bleibt im Gedächtnis, GM 295). Vgl. Ries 2008, 118.

[5] Als Beispiel eines Vorurteils in der Philosophie führt Nietzsche die Stoiker an, welche die Natur gemäß ihrem Lehrsystem umgedeutet hätten, um an ihr und mit ihr ihre Ethik auszuleben (vgl. JGB 21–22). Zu diesem Schluss kommt Nietzsche aufgrund des Ziels im Stoizismus, frei zu sein von Affekten (ἀπάθεια), was seiner Ansicht nach dem Wesen des Lebens widerstrebt (und überhaupt herrschen schon bei den „einfachsten“ Vorgängen der Sinnlichkeit die Affekte, JGB 113) und das Leben selbst somit negiert. Die Philosophie eines Philosophen nennt Nietzsche im Fall der Stoiker wie auch in anderen Fällen das Selbstbekenntnis ihres Urhebers (JGB 19).

[6] Die Metaphysiker stellen nach Nietzsches Schilderung Werte eigenen Ursprungs her, die sie der sinnlichen Welt entgegenhalten und als Wahrheit ausgeben. Nietzsche hält dem die Frage entgegen, ob es einen solchen Gegensatz wie die sinnliche Welt einerseits und die geistige Wahrheit andererseits überhaupt gibt (vgl. JGB 16–17).

[7] Nietzsche gilt als Entdecker der Leiblichkeit. Er stellt die Wertigkeit des Leibes jener der Seele, für die der Leib in der idealistischen Tradition nur als ein Hilfsmittel von Bedeutung ist, voran. Das Geistige gilt es Nietzsche als die Zeichensprache des Leibes festzuhalten (vgl. Kaulbach 1980, 183).

[8] Allerdings ist Nietzsche deshalb nicht als reiner Materialist aufzufassen. Er wendet sich sowohl gegen eine bloße empiristisch-mechanistische Philosophie (Den Imperativ „Wo der Mensch nichts mehr zu sehen und zu greifen hat, da hat er auch nichts mehr zu suchen“ [JGB 28] hält Nietzsche Physikern, den Maschinisten und Brükkenbauern der Zukunft [JGB 29], vor), als auch gegen eine rein rationalistische oder transzendentale Methode (sinnenfeindliche Metaphysik, GM 265; Verteufelung der Natur, GM 331).

[9] Um seinen moralischen Standpunkt zu verstehen und zu verinnerlichen, rät Nietzsche die eingehende Lektüre seiner künstlerischen Schriften (Freilich thut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor Allem noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist – und darum hat es noch Zeit bis zur „Lesbarkeit“ meiner Schriften –, zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht „moderner Mensch“ sein muss: das Wiederkäuen …, GM 256) Nebenbei sei angemerkt, dass Nietzsche im Unterschied zu idealistischen Philosophen die Kunst als ein Wille zum Leben betrachtet. Bei Schopenhauer beispielsweise ist es wiederum gerade die Kunst und die Askese, die die Aufhebung des Wollens, d. h. des Willens zum Leben, leistet und damit in Nietzsches Worten einen Willen gegen das Leben darstellt (GM 252).

[10] Dem möglichen Missverständnis, dass der Wille zur Macht an sich unterschiedlich ausgeprägt sein könnte, ist entgegenzuhalten, dass das Streben nach Macht dem Entwicklungsstatus einer Lebensform unterliegt und deshalb mehr oder weniger zum Tragen kommt. Der Wille zur Macht in seiner Eigenart ist hingegen bei allem Lebendigen von gleicher Intensität.

[11] Gegenüber dem animal rationale ist der Tiermensch nicht völlig ohne Verstand, worauf schon der Begriff in seiner Kopplung des Tieres mit Menschen selbst hinweist, doch im Hinblick auf die Genealogie der Moral kommt es Nietzsche auf die Vergesslichkeit (GM 291) des „Tieres“ Mensch an im Gegensatz zum Menschen, der sich die Vergesslichkeit abtrainiert hat.

[12] Nietzsche sah im vorklassischen Griechentum die Moral des höheren Menschen repräsentiert. Mit Sokrates aber lässt er die Wende vom Mythos zum Logos einhergehen (vgl. Köhler 1973, 7 u. 15). Sokrates’ Satz: „Ich weiß, dass ich nichts weiß“ (JGB 137) nimmt Nietzsche zum Ausdruck des Übergangs von der Wertungsweise ‚gut und schlecht‘ zu ‚gut und böse‘ ((…) man weiss [heute] ersichtlich in Europa, was Sokrates nicht zu wissen meinte, und was jene alte berühmte Schlange einst zu lehren verhiess, – man „weiss“ heute, was Gut und Böse ist, JGB 124).

[13] Vgl. Ries 2008, 118.

[14] Besonders plausibel wird dieser Umstand am Beispiel des Sklaven Spartakus. Er war ein Herrenmensch, weil er sich nicht demütig seiner widrigen Lebensumstände unterwarf, sondern versuchte, seine Unterdrücker zu besiegen. Sein Wille zur Macht war ein aktiver Wille, ein Wille zum Leben.

[15] Nach den Vorsokratikern ging mit Platon eine Abkehr von der sinnlichen Welt hin zur geistigen einher. Für den Vitalismus Nietzsches ist dies gleichbedeutend mit einer lebensverneinenden Haltung und somit auch mit einer reaktiven Kraft, d. h. mit einem reaktiven Willen zur Macht.

[16] Die Juden betrachtet Nietzsche als ein Sklavenvolk (Die Juden – ein Volk „geboren zur Sklaverei“, JGB 116) und sieht mit ihnen den Beginn des Sklavenaufstands in der Moral ([Mit dem Jüdischen Volk] beginnt der Sklaven-Aufstand in der Moral, JGB 117) Vgl. auch GM 267–268.

[17] Das Christentum hat nach Nietzsche einen Geniestreich vollbracht, indem es Gott für seine missliche Lage auf Erden verantwortlich machte (GM 331) und sich der Erbsünde unterwarf.

[18] Die reaktiven Affekte sind solche, die das Ressentiment gegen die aktiven Affekte (GM 310) der aktiven Menschen (GM 311) hegt. Sie äußern sich in Gefühlen wie Hass, Neid, Missgunst, Argwohn, Ranküne oder Rache (GM 310).

[19] Als Beispiel sei ein Parasit angeführt: Dieser ist auf einen Wirt angewiesen, der gesund ist und das Leben bejaht. In seinem eigenen Wirken und seiner Vermehrung aber agiert der Parasit gegen sich selbst und deshalb reaktiv, weil er die Gesundheit und somit die Existenz seines Wirtes zunichte macht.

[20] Die eigentliche Grausamkeit sieht Nietzsche in der Sozialisierung des Tiermenschen, die mit dem VertragsverhältnisGläubiger und Schuldner“ (GM 298) einherging (Vermittelst der „Strafe“ am Schuldner nimmt der Gläubiger an einem Herren-Rechte theil: (…) Der Ausgleich besteht also in einem Anweis und Anrecht auf Grausamkeit, GM 300).

[21] Vgl. Anm. 1.

[22] Vgl. in GM 333 den Aphorismus 23, in dem Nietzsche die Vergöttlichung der selbstherrlichen Menschen als Abwehr des schlechten Gewissens wertet, während das Christentum sich vor Gott als schuldig betrachtet.

[23] Das animal rationale hat sich seiner Instinkte schämen gelernt (die Scham des Menschen vor dem Menschen, GM 302) und schämt sich somit vor sich selbst, womit es eine pessimistische Grundhaltung aufweist (Der müde pessimistische Blick, das Misstrauen zum Räthsel des Lebens, das eisige Nein des Ekels am Leben, GM 302). Deshalb tritt dem Menschen des Ressentiments das Leiden gegen das Dasein auf.

[24] Die Ressentiment-Kultur konnte sich deshalb etablieren, weil sie aufgrund ihrer Schwäche, die sie nicht nach außen entladen konnte, im Sentiment, d. h. im Innern ihrer Herdenorganisation, ihre Macht suchte. Dieser Umstand wiederum führt zum gewaltfreien Ressentiment. So preist z. B. Jesus diejenigen, die arm sind vor Gott, oder diejenigen, die keine Gewalt anwenden, selig (Mt 5,3–12).

[25] „Kontradiktorisch“ nennt Nietzsche diese Ausdrücke, weil sich beispielsweise die Vernunft seiner Auffassung nach nicht ohne den Leib fassen lässt. Eine „reine“ Vernunft, d. h. eine ohne die Komponente des Leibes, ist im Vitalismus Nietzsches gar nicht möglich. Vielmehr sei der Leib die große Vernunft, das Bewusstsein hingegen die kleine Vernunft (vgl. Kaulbach 1980, 183).

[26] Nietzsche sieht die Wissenschaft und das asketische Ideal auf demselben Boden stehen, weil sie beide an die Unkritisierbarkeit der Wahrheit glauben (vgl. GM 402). Der Wille zur Wahrheit und alle Philosophie vor Nietzsche, über die das asketische Ideal herrschte, mache sich eine andere, d. h. eine geistige Welt, vorstellig, nicht die der lebendigen Natur (vgl. GM 400–401).

[27] Auch im Nachwort von Colli ist dieser Fortgang (Wille zur Macht – leidendes Dasein – Nihilismus) aufgezeigt. Der Wille zur Macht ist für den Menschen der Sklavenmoral gleichbedeutend mit Leid, das er um jeden Preis ausschalten möchte, und eben durch dessen Negierung wirkt er nihilistisch (Colli 1968, 417–418).

[28] Nietzsche unterscheidet prinzipiell nur diese zwei Arten von Moral, die Herden- und die Herrenmoral (JGB 208).

[29] Besonders Schopenhauer hat die Erlösung vom Leiden in der Aufhebung des Wollens gesucht (vgl. JGB 68 u. GM 251–252). Nietzsche schließt daraus, dass der Mensch lieber das Nichts wolle als nicht zu wollen (GM 412).

[30] Dieser Grundwille des Geistes ist ähnlich wie der Wille zur Wahrheit ein lebensfeindlicher. Der Wille zur Wahrheit kann begrifflich dem Grundwillen des Geistes subsumiert werden.

[31] Der Aufklärung geht die Renaissance voran, der Nietzsche eine erneute Ressentiment-Bewegung, die Reformation unter Luther, entgegensetzt (vgl. Köhler 1973, 23). Diese Gegenüberstellung sieht Nietzsche auch schon in der Antike in Sokrates und den olympischen Göttern, als sich der Übergang vom Mythos zum Logos vollzog (vgl. Köhler 1973, 15–17 u. Anm. 12).

[32] Vgl. Margreiter 1988, 367.

[33] Der Übermensch ist eine fiktive Figur Nietzsches, den er in Also sprach Zarathustra vom Protagonisten verkünden lässt. Der Übermensch „lässt eine Betrachtung des Lebens in seinem ewigen Kreislauf von Grausamkeit, Sinnlichkeit und Gewöhnlichkeit als bejahenswert erscheinen. (…) Er erträgt das Unerträgliche im Gedanken der Wiederkehr“ (Ries 2008, 101): „(…) – ich komme ewig wieder zu diesem gleichen und selbigen Leben, im Grössten und auch im Kleinsten, dass ich wieder aller Dinge ewige Wiederkunft lehre, – dass ich wieder das Wort spreche vom grossen Erden- und Menschen-Mittage, dass ich wieder den Menschen den Übermenschen künde“ (Z in Ries 2008, 102).

[34] Nietzsche könnte in einer unreflektierten Betrachtung seiner Moral mit den Sophisten, die das natürliche Recht des Stärkeren propagierten, verglichen werden. Besonders Kallikles in Platons Dialog Gorgias hält an diesem Herrenrecht fest. Doch fällt dieser in Nietzsches Sinne eher unter die Tiermenschen, wo die Moral zwar zum Tragen kommt, aber noch nicht wie beim Übermenschen einen echten und wahren Wert erhalten hat.

[35] Das Bewusstsein stellt im Vitalismus Nietzsche anders als bei idealistischen Theoretikern nur das „Werkzeug“ des Lebewesens bzw. des Leibes dar. Für die Entfaltung des Willens zur Macht spielt das Bewusstsein demnach nur insofern eine Rolle, als sich seine Erkenntnisse für den Trieb zum Leben des Willens zur Macht nutzbar machen lassen (vgl. Kaulbach 1980, 183 und Anm. 7).

0 Kommentare

Einen Kommentar abschicken

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert