Kann der Mensch „nackt“ sein?
Du wirst es nicht glauben, aber der „nackte Mensch“ ist in der griechischen und lateinischen Literatur nicht überliefert.
Nackt, entblößt oder entkleidet, heißt im Altgriechischen γυμνός, sprich: gymnós, im Lateinischen nudus. Und jetzt pass auf: In der Literatur habe ich nicht finden können, dass gymnós bzw. nudus im Sinne des Nacktseins mit dem Menschen in Verbindung gebracht worden wäre.
Das heißt, die alten Griechen und Römer haben den Menschen nicht als nackt in unserem heutigen Sinne angesehen, wenn er „nackt“ war.
Heißt Homo nudus „Der nackte Mensch“?
Mit den folgenden lateinischen Beispielen möchte ich dir zeigen, dass das Wort nudus nicht „nackt“ im heutigen Sinne meinte:
- Nudus sum (sum: ich bin) kann nicht mit „Ich bin nackt“ übersetzt werden; das könnte es allenfalls, wenn diese Wendung für sich stehend in Gebrauch gewesen wäre, war sie aber nicht. Vielmehr so: Nudus sum a propinquis: Ich bin ohne Verwandte. (Quelle: p. red. Ad Quir. 7,16).
- So war auch ein Soldat nicht nackt, wenn er ohne Schild und Waffe kämpfte, denn nudo corpore pugnare hieß nicht mit nacktem Körper kämpfen, sondern ohne Schild/Waffe kämpfen. Klar, man könnte mit nackt kämpfen übersetzen, wichtig dabei ist aber zu verstehen, was der alte Römer damit meinte, wenn im Kontext von Soldaten im Kampf die Rede ist.
- Das ist auch hier zu sehen: Ein arbor nuda ist kein nackter Baum, sondern ein Baum ohne Laub,
- oder wenn etwas oder jemand einer Sache beraubt ist: navis remigio nuda – Schiff ohne Ruder.
Mit diesen Beispielen der Verwendung des Wortes nudus im Lateinischen ist also anzunehmen, dass der Mensch ohne Kleidung für die alten Römer nicht „nackt“ war im heute verstandenen Sinne, sondern schlicht ohne Kleidung. Daher nimmt es nicht Wunder, dass es im klassischen Latein den Ausdruck homo nudus nicht gibt. Allenfalls denkbar wäre eine Übersetzung mit „der einsame Mensch“ oder „der Mensch ohne Gemeinschaft/Gesellschaft“, wenn sich der Ausdruck denn doch noch im klassischen Latein finden ließe.
Denn eines ist Sicher, die lateinische Sprache ist logischer und konsequenter als das Deutsche, und damals machte die Gemeinschaft den Menschen aus, er lebte im Zweckverband, der ein nicht wegzudenkender Bestandteil von ihm darstellte (deshalb sprach Aristoteles vom Zoon politikon, altgriechisch ζῷον πολιτικόν). Ein Einzelgänger war dann also in diesem Sinne „nackt“, er war ohne Gemeinschaft.
Homo nudus heißt: Der einsame Mensch
Was sagt das nun?
Eine ganze Menge! Ein Mensch war eben nicht nackt, wenn seine Genitalien sichtbar sind, dass heißt: er war nicht wegen ihrer Sichtbarkeit „nackt“, wie wir es heute verstehen; er war allenfalls ohne Kleidung.
Dies ist ein Menschenbild, das uns heute gut zu Gesicht stünde. Gerade wenn es um die Verteidigung der Werte der Freiheit und Toleranz geht.
Ist es falsch, von Nacktheit zu sprechen?
Nein, ganz und gar nicht. Ich bin gerne nackt. Mir kommt es bei der Klärung des Begriffs der Nacktheit darauf an, dass dem Menschen nichts fehlt, wenn er nackt ist, eben ganz so wie es bei den alten Griechen und Römern der Fall war. Sie wären lediglich aufgrund fehlender Kleidung gar nicht auf die Idee gekommen, hier eine Nacktheit zu erkennen – da gehört schon mehr dazu!
Oft ist bei Statuen die Rede davon, dass sie nackt seien. Doch kann das richtig sein?
In einer Schlagzeile heißt es: „Renzi kritisiert Verhüllung nackter Statuen“ (Badische Zeitung, 28.01.2016, S. 5). Denn entweder müsste man sagen, dass Statuen immer nackt sind, wobei es keine Rolle spielt, ob sie einen unbekleideten Menschen abbilden oder einen bekleideten, oder sie sind es eben nicht – weil Statuen nun einmal in jedem Falle aus Steinblöcken gehauene Skulpturen sind.
An diesem Beispiel offenbart sich einmal mehr die Beziehung der Menschen zu ihren Genitalien, wenn sogar Steinblöcke als nackt bezeichnet werden, die es im menschlichen Sinne gar nicht sein können. Und das – es sei nochmals eindringlich hervorgehoben – nur deshalb, weil primäre Geschlechtsteile darin zu sehen sind, wenngleich auch nur in Stein gemeißelte.
Das ist sehr seltsam, definieren wir uns doch geradewegs durch sie und mit ihnen…
Lerne, nackt zu sein! Erhalte jeden Donnerstag nackte Impulse:
To be in the altogether
Im Englischen gibt es den Ausdruck „to be in the altogether“, was die Erscheinung im Adamskostüm bezeichnet. Altogether steht dabei für „completely“, also vollkommen. Der Mensch ist demnach – auch dann(!), oder erst dann (?) – vollkommen, wenn er ohne Kleidung ist.
Im homo nudus erkenne ich gar eine gesteigerte Nacktheit des Menschen, eine Art der radikalen Entblößung, die die menschliche Vollkommenheit offenbart und über die physische Nacktheit hinausgeht. Während die körperliche Nacktheit den Menschen lediglich ohne Kleidung darstellt, zeigt die nudale Vollkommenheit eine tiefere Entblößung, sie zeigt den Menschen, dem nichts fehlt, und symbolisiert eine Art innere, unverhüllte Existenz; eine positive identitäre Stärke.
Mit der Entblößung des Körpers, erscheint die menschliche Identität, die nicht aus seinem Geschlecht erwächst: Vulva und Penis (oder was auch immer dazwischen) sind nur zufällige Merkmale, keine anderen wie es zum Beispiel Blutgruppen oder Augenfarben sind. To be in the altogether meint das antike Verständnis des Menschen als Mensch (nicht als Mann oder Frau), dem nackt nichts fehlt, sondern er seine Vollkommenheit zeigt – ganz ohne Scham für sich selbst!
Nackt ist der Mensch stärker, da er sich von den äußerlichen Schichten seiner genitalen Identität befreit und sich seiner wahren Identität und Existenz bewusst ist. Der Homo nudus steht für den Menschen, der nicht in den Fesseln des heutigen Verständnisses des Nacktseins steht. Nackt zu sein ist ein Akt der Befreiung und der Selbstverwirklichung des Menschen in seiner Stärke und Verwundbarkeit zugleich.
Das Entblößtsein, sprich das Bloß-Sein ist ein Zustand, der den Menschen nicht nur körperlich, sondern insbesondere in seinem Innern berührt. Es ist ein Zustand nackter Offenheit und Stärke.
Der Homo nudus bezeichnet also nicht nur den Menschen, dem etwas fehlt (der einsame Mensch), sondern, wie ich nun herausstelle, auch den vollkommenen Menschen im Sinne seiner positiven Annahme seiner Selbst – ohne Scham.
Homo nudus heißt auch: Der vollkommene Mensch

Eine von Michelangelo stammende Christusfigur, die einen muskulösen, schönen nackten Jesus darstellt, wurde damals von vielen verehrt. Ein Dominikanermönch war aber so erzürnt über die nackte Darstellung Jesu, dass er der Figur den Penis abschlug.
Jesus hing nackt am Kreuz
„Herr Gott, hört des Unschuldigen Stimme!“
Das sind die Worte eines Vaters als sein ruft: „Aber er hat ja nichts an!“
So kommt in Hans Christian Andersens Märchen Des Kaisers neue Kleider die Wahrheit ans Licht: Der Kaiser ist nackt, er kann es mit dieser kindlichen Ehrlichkeit nicht mehr kaschieren, das Publikum kann nicht mehr so tun, als ob es die Nacktheit des Kaisers nicht bemerkt hätte.
Schaue dir vor diesem Hintergrund das folgende Zitat von Papst Johannes Paul II an:
„Der Mensch erscheint in der sichtbaren Welt als der höchste Ausdruck des göttlichen Geschenks, weil er das ganze Ausmaß dieses Geschenks in sich trägt. Und damit bringt er seine besondere Ähnlichkeit mit Gott in die Welt, durch die er auch seine Sichtbarkeit in der Welt, seine Leiblichkeit (…) und seine Nacktheit (…) beherrscht.“
Papst Johannes Paul II
Damit, dass der Mensch seine Nacktheit beherrsche, meint Papst Johannes Paul II nicht, dass dies mit Kleidung geschieht, der Mensch also mittels textiler Verhüllung seine leibliche Sichtbarkeit in der Welt kaschiert.
Nein! – die Leiblichkeit und Nacktheit zu beherrschen heißt, sich bewusst darüber zu sein, als höchster Ausdruck des göttlichen Geschenks zu erscheinen, selbstverständlich nackt.
Ja, du bist ein Geschenk, nackt wie du in die Welt gekommen bist; so ist Papst Johannes Paul II unmissverständlich zu interpretieren.
Denn der wahre Mensch ist nicht durch äußere Dinge wie Reichtum oder Status definiert, sondern durch seine innere Haltung und Weisheit. Der Mensch, der seine Nacktheit als seine Vollkommenheit betrachtet, ist von äußeren Bindungen und Versuchungen befreit hat und lebt das „Wesentliche“ seines Seins.
Was heißt das für den Kaiser aus Hans Christian Andersens Märchen?
Was heißt das für dich?!
Der Ausruf des Kindes „Aber er hat ja nichts an!“ ist eine nüchterne Feststellung, eine entblößende ehrliche. Auch bei Jesus am Kreuz müssten wir jedesmal ausrufen: „Aber er hatte doch gar nichts an, er starb für die Sünden der Menschen!“
Nackt zu sein ist deine Stärke, zeige dich in kaiserlichem Glanz!
Fazit
Der Homo nudus bezeichnet also nicht nur den Menschen, dem etwas fehlt, sprich den einsamen Menschen, sondern auch den vollkommenen Menschen im Sinne seiner positiven Annahme seiner Selbst – ohne Scham.
Für gläubige Christen bedeutet das in meinen Augen, die Nacktheit Jesu am Kreuze ernst zu nehmen und zu akzeptieren – ja: dafür einzustehen. Denn Jesus hat seine Nacktheit begrüßt, weil er nichts zu verbergen hatte. Seine Nacktheit steht für seine Unschuld, und für die Schuld der Menschen, für die er gestorben ist.
Kampagne: Ich bin nackt – na und?!
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Puh, das ist wieder ein echt anspruchsvoller Text, den ich erst einmal mehrmals lesen musste, um ihn (hoffentlich) zu verstehen.
Für mich persönlich liegt in der Nacktheit und darin, dass ich auch bereit bin, mich nackt zu zeigen, eine unglaubliche Stärke.
Denn unbelastet kann ich dies nur tun, wenn ich die Scham überwunden habe. Scham empfinde ich als ein Instrument, welches mich davon abhalten soll, schlimme Dinge zu tun. Nur hier empfinde ich Scham als angemessen. Wenn ich anderen Leid zugefügt habe, dann kann die daraus resultierende Scham sinnvoll sein, meine Handlung zu hinterfragen und zu korrigieren.
Aber wo die Scham sich auf unsere Nacktheit bezieht, wo sie destruktiv auf mich selbst angewendet wird, da ist sie einfach völlig deplatziert.
Gelingt es mir, diese Scham abzulegen und mich schambefreit in meiner nackten Vollkommenheit anzunehmen, dann gewinne ich an Stärke und bin auch für eventuelle Anfeindungen nicht mehr empfänglich.
Es ist schade, viele Menschen (mich eingeschlossen) so lange brauchen, um sich von der Scham zu befreien und ein nacktes, erfülltes Leben zu führen.
Daher herzlichen Dank für solche Denkanstöße!
Hallo Ralf,
vielen Dank für dein Kommentar!
Inzwischen habe ich noch kleine Ergänzungen in den Text eingearbeitet.
Die Sache mit der Scham: Genau so ist es, wir schämen uns für das Falsche. Es passieren tagtäglich so viele schlimme Dinge auf der Welt, die als ganz normal hingenommen werden, aber geschrien wird, wenn ein Nackter unterwegs ist.
Lieber Gruß
Ulrich
m Thomas-Evangelium Legion 37 gibt es eine Stelle, wo die Jünger Jesus fragen, wann er ihnen offenbart wird bzw. wann sie ihn wieder sehen werden: „An welchem Tag wirst du uns erscheinen und an welchem Tag werden wir dich sehen?“
Jesus sagte: „Wenn ihr euch eurer Blöße entkleidet, ohne euch zu schämen, und eure Kleider nehmt und sie unter eure Füße legt wie kleine Kinder und sie zertritt wie Menschen, die sie zertreten, – dann werdet ihr den Sohn des Lebendigen sehen, und ihr werdet euch nicht fürchten.“
Die Antwort Jesu ist metaphorisch und verweist auf ein inneres Erkennen oder eine Art spirituelle Wiedergeburt (z. B. das Ablegen weltlicher Vorstellungen oder Egosymbolik – die Kleider – um das Göttliche zu erkennen). Das Entkleiden symbolisiert also das Ablegen der materiellen oder körperlichen Hülle und das Nicht-Schämen verweist auf das Wiedererlangen eines kindlichen, unschuldigen Zustands, etwa vergleichbar mit Adam und Eva vor dem Sündenfall. Es ist somit eine innere Christus-Erfahrung und keine reale Wiederkunft Jesu. Dieses Zitat aus dem Thomas-Evangelium unterstreicht die Bedeutung des Verzichts auf äusserliche Erscheinungen, um eine tiefere Verbindung mit dem Göttlichen zu erreichen. Es betont die Notwendigkeit, die eingefahrende Denkweise zu verlassen und eine unbefangene, kindliche Wahrnehmung zu entwickeln, um die wahre Wahrheit zu erkennen.