Was sind gesellschaftliche Wertvorstellungen? Ein Beispiel.

Wertvorstellungen | Ältere Frau hebt ihren Zeigefinger.

 

In diesem Beitrag wird dir anhand eines außergewöhnlichen Beispiels gezeigt, wie unterschiedliche Wertvorstellungen zu Konflikten führen können und wie wichtig es deshalb ist, die Bedeutung und die Tragweite der eigenen Werte wirklich zu verstehen.

Tauche jetzt tiefer in die faszinierende Welt der sozialen Werte ein und entdecke darin den blinden Fleck, der entscheidend für den gesellschaftlichen moralischen Fortschritt ist.

 

 

Kenne die Bedeutung deiner Werte

Unsere Gesellschaft ist voll von Bekundungen für mehr Freiheit, Respekt, Toleranz und dergleichen. Ein Grund dafür ist der zurzeit beunruhigende Zustrom, den mehr oder weniger politisch rechtsorientierte Gruppierungen oder Parteien erhalten. Die Furcht vor Überfremdung lässt wohl manchen Menschen deren Parolen Glauben schenken, sodass verstärkt das Bedürfnis aufkommt, mit humanistischen Werten dagegenzuhalten. Die Badische Zeitung beispielsweise startete im Zuge der Flüchtlingsströme im Jahre 2015 eine Serie, die sich den Werten unserer westlichen, demokratischen Gesellschaft widmete, um sie uns wieder bewusster zu machen und zu zeigen, wie wir vor diesem Hintergrund respektvoll(er) mit Menschen fremder Kulturen interagieren können, ohne Furcht, dass unsere Werte dadurch brüchig oder unterminiert werden.

In der damaligen Serie mit dem Leittitel „Dafür stehe ich“ kommen viele Bürger zu Wort, die sich für unser Verständnis von Freiheit, Anstand, Respekt und Toleranz starkmachen.[1] Dies ist freilich zu begrüßen, jedoch fehlt bei all den Aussagen, die sich hier finden, etwas Entscheidendes, was das Motto „Dafür stehe ich“ letztlich als eine leere Worthülse erscheinen lässt.

Ich möchte dich an dieses Fehlende mithilfe eines fingierten Leserbriefes an die Badische Zeitung, der im Folgenden zu lesen ist, heranführen. Er ist als Reaktion auf einen Artikel der Serie, der mich angesichts dieser Leerstelle aufwühlte, zu verstehen:

 

Das ist nur scheinbar ehrlich.

„Jeder gehört zu einer Minderheit“[2], meinte OB Salomon bei der Einbürgerungsfeier von Menschen aus 80 Nationen im Historischen Kaufhaus. In Deutschland lebe man lt. Salomon auch mit unterschiedlicher Hautfarbe, Ethnie und Religion gut zusammen. An dieser Aussage – um einem eventuellen Missverständnis vorzubeugen – will ich nichts kritisieren. Als toleranter Mensch, der seine Werte kennt und zu ihnen steht, schließe ich mich dem an. Ich möchte diesbezüglich aber auf eine tiefliegende und wirkmächtige Inkonsequenz und Unvollständigkeit hinweisen, die offenbar bei allen Diskussionen und Bekundungen für mehr Freiheit, Respekt und Toleranz nicht bewusst (weil tabuisiert?) wahrgenommen wird. Denn es werden nahezu gesamtgesellschaftlich auch Menschen diskriminiert, die eigentlich die im Grundgesetz propagierte Gleichheit der Menschen zur Grundlage haben, indem sie beispielsweise den Menschen selbst nicht problematisieren. Sie können nicht folgen? Stellen Sie sich nur einen Menschen vor, der an einem warmen Sommertag unbekleidet z. B. an der Dreisam spaziert. Dieser Person würden allerlei obszöne Absichten unterstellt werden, so als sei sie pervers. Wofür? Etwa dafür, dass sie ein Mensch ist? Dafür, dass diese Person kein Problem mit sich selbst hat? Dafür, dass sie Toleranz, Gleichheit, Freiheit und Menschlichkeit lebt? Dafür, dass sie den Tag genießt?

Deshalb halte ich die bei vielen Gelegenheiten geäußerten Willensbekundungen für mehr Toleranz, Freiheit etc. für unvollständig und unaufrichtig, da paradoxerweise trotz deren Einforderung zugleich Menschen, die kein Problem mit sich selbst und anderen haben, die Freiheit genommen wird, genau dies auszuleben. Dieser Sachverhalt zeigt, dass in unserer Gesellschaft der Mensch als solcher bereits ein Toleranzproblem mit sich selbst hat – ein Umstand, der die Ausübung von Toleranz gegenüber fremden Kulturen sicherlich erschwert!

Salomons Aussage, dass jeder zu einer Minderheit gehöre, die impliziert und intendiert, dass jeder, der die Freiheit anderer nicht einschränkt oder verletzt, zu tolerieren und zu akzeptieren sei, ist daher nur scheinbar ehrlich oder zumindest mit einem enthaltenen blinden Flecken unvollständig, da wahrscheinlich er und ganz sicher die meisten Menschen (unserer Gesellschaft) die von mir genannte Minderheit nicht tolerieren oder gar tabuisieren.

 

 

 

Stimmen deine Wertvorstellungen mit deinen Aussagen überein?

Stimmt die Intention der Aussage also, dass jeder zu einer Minderheit gehöre? Stimmt es demnach, wenn jemand verkündet: „Unter Freiheit verstehe ich auch, das tun zu können, was ich möchte, vorausgesetzt ich schade mit meinem Handeln keinem anderen“[3]? Stimmt es demnach, wenn jemand sagt, dass es zur Freiheit gehöre, sich so zu akzeptieren, wie man sei?[4] Stimmt demnach der Rat, man solle sich selbst erkennen und seinen individuellen Weg zum Glück finden?[5] Stimmt es denn, wenn jemand die Forderung vorbringt, dass Philosophen ihre Gedanken vorleben sollen, um authentisch zu erscheinen? All diese Meinungen werden die meisten Menschen vehement bejahen, und auch ich tue dies. Allerdings mit dem Verweis auf den hier herausgestellten blinden Flecken: Denn es ist doch so, dass der Philosoph seine Gedanken zu der hier vorgelegten Thematik von der Akzeptanz der naturistischen Lebensweise in der Öffentlichkeit, die von der Gesellschaft nahezu tabuisiert wird, eben nicht ausleben kann – weil er es nicht darf. Hier nützt alles (philosophische) Argumentieren, Beweisen und Darlegen nichts. Der Philosoph kann und darf nicht der sein, der er sein will, und sein Leben nicht so gestalten, wie er es für richtig hält. Und das, obwohl es die gängige Ansicht ist, jemandem genau diese Freiheit zugestehen zu müssen, solange eben die Freiheit anderer nicht eingeschränkt oder verletzt wird.[6]

Es ist also dieser blinde Fleck, der im Allgemeinen und hier im Besonderen in der BZ-Serie „Dafür stehe ich“ nicht gesehen wird oder nicht bewusst ist, wenn Menschen paradoxerweise ihre Freiheit genommen wird und sie nicht toleriert werden, obwohl sie in ihrer Handlung eigentlich nicht der Freiheits- und Toleranzauffassung der Allgemeinheit zuwiderhandeln – ja, sie sogar ethisch konsequent vervollständigen: Der Mensch kann nur wahrhaft frei, respektvoll und tolerant sein, wenn er sich nicht für seine eigene Leiblichkeit und seiner Einstellung zu ihr, d. h. wenn er sich nicht für sein Selbst schämen muss oder ihm zumindest die Freiheit gelassen wird, es nicht zu müssen. Dies fordert eigentlich bereits unsere landläufige Auffassung von der Würde des Menschen, die hier allerdings entgegen dem Artikel im Grundgesetz[7] in ihren Grundfesten angetastet wird.

Ich füge hier an dieser Stelle einen Leserbrief, den ich in der BZ fand, als ein Beispiel ein, da in ihm von einer geforderten Bewusstseinsbildung unserer Werte die Rede ist, dabei der blinde Fleck aber enthalten ist:

 

Werte

Ich gratuliere Ihnen zu dieser Serie

ZU: „Dafür stehe ich“ – „Unsere Werte, unser Weg“, BZ-Serie von Thomas Fricker (Politik, 29. Dezember):[8]

Als langjähriger Leser der BZ und politisch interessierter Bürger darf ich Ihnen gratulieren zu der Initiative zur Serie „Dafür stehe ich“, und Ihnen dafür danken. In (schlechter) Erinnerung ist mir noch die Debatte über die deutsche Leitkultur. Heute sind wir aufgerufen, Flüchtlinge in unser Land zu integrieren, und es gibt Stimmen, die das für alle Neubürger zur Pflicht machen wollen. Unsere Werte sollen an Menschen eines sehr anderen Kulturkreises vermittelt werden. Dabei brauchen wir Deutsche selbst erst mal Nachhilfe in der Sache. Vieles ist uns so selbstverständlich, dass wir es gar nicht deutlich formulieren können. An der Wertschätzung für unseren Wertekanon fehlt es. Ich erhoffe mir von Ihrer Serie ein gutes Stück Bewusstseinsbildung, die nötig ist, um die wichtigen Elemente unserer Kultur überhaupt weitergeben zu können.

 

 

 

 

So werden aus den eigenen Vorstellungen von Werten negative Werte

Ja, auch diesem Leserbrief stimme ich zu! Es wird nur langsam ermüdend, wenn ständig von einer Bewusstseinsbildung unserer Werte gesprochen wird, ohne dabei das eigentliche Problem zu benennen, das der hier aufgezeigte blinde Fleck ist. Er soll hier nochmals der Klarheit wegen erläutert werden: Wenn wir uns auch durch die gesellschaftliche Sozialisation für unsere natürliche Körperlichkeit genieren, weil wir es gewohnt sind, in der Öffentlichkeit so gut wie immer bekleidet zu sein und uns für unsere Nacktheit zu schämen, stellt dieser Umstand doch einen fragwürdigen Bekleidungszwang dar, da sich der Mensch mit dieser Verhaltensweise unbemerkt selbst diskriminiert. Genau dieser blinde Fleck begründet aber, was bei allen Diskussionen um Freiheit, Respekt und Toleranz nicht mitgedacht wird: die Tatsache, dass Toleranz zu leben und Respekt zu haben heißt, seinen Mitmenschen die Möglichkeit zu gewähren, zu sich selbst zu stehen, ihnen nicht die Freiheit zu nehmen, sie selbst zu sein – was den naturistischen Lebensstil auf ethischer Ebene nun einmal miteinschließt. Diese Einsicht halte ich für die unerlässliche Grundvoraussetzung für moralischen Fortschritt!

Vor diesem Hintergrund verweise ich auf einen Leitartikel in der BZ, der die Serie „Dafür stehe ich“ zusammenfasst.[9] Darin ist zu lesen, dass sich die meisten Menschen nach Freiheit und Sicherheit sehnten, „obwohl beide Ziele in ihrer Reinform im Konflikt zueinander“ stünden. „Eine freie, offene Gesellschaft birgt für den Einzelnen eher Unsicherheiten, eine sichere tendiert dazu, Freiheitsrechte einzuschränken“[10], heißt es erläuternd. Das ist zwar gegenwärtig vermittelter Konsens, mit Verweis auf den blinden Flecken aber Nonsens! Denn Freiheit und Sicherheit stünden nicht im Konflikt zueinander, wenn es weniger Unsicherheiten durch fundamentale Diskriminierungen (hier die des Menschen an sich) gäbe und mit dieser gewonnenen Art von Sicherheit Freiheitsrechte wiederum nicht eingeschränkt werden müssten.[11] Freilich ist mir bewusst, dass in dem Zitat von einer drohenden Gefahr von außen ausgegangen wird, die durch eine funktionierende Wertegesellschaft nicht gänzlich abgewendet werden kann. Das Abwehren terroristischer Anschläge ist allerdings auch nicht das Thema dieses Blogbeitrags. Hier geht es um die Diskussion, Vermittlung und Hinterfragung unserer eigenen Werte, wie wir selbst sie untereinander verstehen und tatsächlich leben oder doch nur auf die Fahnen schreiben. Bekundungen wie „Dafür stehe ich“ sind also ohne Toleranz gegenüber dem Menschen als solchem, ohne dass er sich frei in seiner Selbstachtung in der Öffentlichkeit respektiert fühlen kann, ohne sich für sich selbst schämen zu müssen, nicht konsequent bzw. ehrlich genug und führen zu keinem befriedigenden Ergebnis. Alle weiteren und vielfältigen Behauptungen wie „Toleranz ist wichtig, darf aber Intoleranz nicht tolerieren, Respekt [ist wichtig], wenn er gegeben, nicht gefordert wird“[12] oder in Anlehnung an Kant: „Wir sollten den Mut haben, uns unseres Verstandes zu bedienen“[13] verkommen so zu nicht ernst zu nehmenden und paradoxen Wortklaubereien.

 

Wertvorstellungen | Karikatur Stuttmann | Textil- und FKK-Strand

Karikatur: Stuttmann

 

 

Die Freikörperkultur und der Naturismus oder zumindest das Tolerieren und Respektieren unbekleideter Menschen scheint hingegen den blinden Flecken adäquat auszuleuchten, um uns unserer eigenen Werte bewusst zu werden. Und um einzusehen, dass wahre Rede von Freiheit, Respekt und Toleranz nur möglich ist, wenn man seine Mitmenschen nicht allein schon für ihr Menschsein diskriminiert, d. h. allein schon für ihr eigenes Selbst – womit zugleich die Diskriminierung des Diskriminierenden eingeschlossen wäre. Die in den Beiträgen der Serie „Dafür stehe ich“ geäußerten Bekenntnisse sind also nicht ganz vollständig, wenn trotz gegenteiliger Bekundungen Menschen, die sich für nichts an sich selbst schämen wollen (und somit zu einer Minderheit zählen), diskriminiert werden und sogar noch despektierlicher behandelt werden als andere Randgruppen wie Homosexuelle, Asylbewerber, Transsexuelle oder Behinderte.

Aufklärung tut hier Not. Dieser Not hoffe ich, mit diesem Blogeitrag einen Schritt beizukommen, damit der Wunsch „Zusammenhalt in Vielfalt“ im Leitartikel zur BZ-Serie „Dafür stehe ich“ ein ehrlicher und echter Wunsch wird, der keinen gesellschaftlich etablierten und tabuisierten blinden Flecken mehr enthält.

 

 

 

Gegensätzliche Wertvorstellungen müssen nicht schwierig sein

Bei Stobaios ist zu lesen, dass Anacharsis[14] auf die Frage, was es für die Menschen Feindliches gebe, geantwortet habe: „Sie selbst für sich selbst“.[15] Mit der hier vorgelegten Beleuchtung des blinden Flecken wird klar:

 

Der Mensch diskriminiert sich selbst für sich selbst und ist sich dadurch selbst ein Feind.

 

Die gegenwärtigen Bemühungen um mehr Toleranz im Zuge der Furcht vor Überfremdung aufgrund der Flüchtlinge, die zu uns kommen, sind vor diesem Hintergrund unzureichend. Wir (und damit meine ich alle Menschen auf der Erde) müssen lernen, dass – so banal es klingen mag – wahre Freiheit, echter Respekt und gelebte Toleranz auch den unbekleideten Menschen impliziert. Nur so ist, mit philosophischer Reflexion gesprochen, neben allen kulturellen Unterschieden Zusammenhalt in Vielfalt möglich. Weil dann jeder Einzelne, der es will, tatsächlich die Möglichkeit hat, sich selbst für sich selbst zu befreien![16]

 

 

 

Überprüfe deine persönliche Werteliste

Aufschlussreich scheint es mir, vor dem Hintergrund dieses Blogartikels abschließend den folgenden Leserbrief vorzulegen. Er wäre wunderbar und auch zeitlos, wenn eben nicht auch hier der besagte blinde Fleck so deutlich wäre:

 

FLÜCHTLINGSFRAGE

Es lohnt sich, für Werte einzustehen

Zu: „Deutschland und die Flüchtlingsfrage – Die Krise des Politischen“, Leitartikel von Thomas Fricker (Politik, 19. Januar):

Die Bundeskanzlerin hat Recht, wenn sie die erste Priorität in ihrem politischen Handeln auf die fundamentalen Werte einer humanen Gesellschaft sowie auf die gesetzlichen Vorgaben in Deutschland und der EU legt. Der absolute Respekt dieser die Menschenwürde schützenden Werte und Gesetze ist das unerlässliche Gerüst einer stabilen, demokratischen und menschlichen Gesellschaft. Erst wenn alles versucht wurde, die mit diesen Werten kompatiblen Lösungen für die praktischen und politischen Anforderungen auszuschöpfen, sollte erwogen werden, den Zwängen der politischen Realität Raum zu verschaffen. Bis dahin müssen alle Anstrengungen unternommen werden, um die Verlässlichkeit der Werte zu bewahren, auch und nicht zuletzt wegen der Glaubwürdigkeit der Politik.

Wie Thomas Fricker schreibt, dürfen Besonnenheit und Urteilsvermögen nicht der Hysterie – und ich würde hinzufügen: nicht dem politischen Opportunismus – zum Opfer fallen. Mit ihrem Bestehen auf den Werten gibt die Kanzlerin ein gerade jetzt notwendiges Signal an die EU und ihre Mitgliedsländer, dass die Gemeinschaft nur dann ihre moralische Berechtigung und ihren bisher guten Ruf in der Weltgemeinschaft erhalten kann, wenn es gelingt, in diesen herausfordernden Zeiten das Humanitätsideal vorzuleben. Wir alle sollten ihr dabei helfen, diese Ziele zu erreichen.[17]

 

 

Nun gut, dieser Leserbrief ist in Bezug auf den Zustrom von Flüchtlingen im Jahr 2015 veraltet. In Bezug auf den hier in den Fokus gerückten blinden Flecken ist er allerdings top aktuell. Diesen blinden Flecken gilt es endlich zu beachten und auszuleuchten, damit wir tatsächlich zu einer Gesellschaft kommen, die ihre Werte wirklich kennt und versteht. Aber nicht nur kennt und versteht im Sinne des Sapere aude!, sondern sie auch das damit zu verbindende lebenspraktische Können kennt und versteht, was das Nudare aude! meint.

 

 

 

Bonus

Überlegungen zur Freiheit und Toleranz im Zusammenhang mit der Nacktheit im öffentlichen Raum

Von Axel Geertz

 

Unser kulturelles Selbstverständnis hat als wesentliche Basis unter Anderem den

Artikel 2 des Grundgesetzes:

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Freie Entfaltung der Persönlichkeit eines jeden heißt im Ergebnis eine hochdifferenzierte Gesellschaft hinsichtlich der praktizierten Lebensart der einzelnen Bürger. Also eine offene Gesellschaft im Sinne von Karl R. Popper. Eine Gesellschaft dieser Art – gemäß Grundgesetz – entwickelt sich nur unter dem Gesichtspunkt der Pflicht zur Toleranz eines jeden Bürgers. Sie zeigt sich als Norm des Grundgesetzes, wenn auch nicht ausdrücklich formuliert, neben dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, andersartige Lebensarten zu tolerieren; zu dulden ohne sie ggf. zu akzeptieren. Diese wechselseitige Beziehung zwischen der Möglichkeit, der eigenen freien Gestaltung der Lebensart und der Toleranz anderen Lebensformen gegenüber, muss als Maß hoher Freiheit gesehen und begrüßt werden. Die Pflicht zur Toleranz ist so unbedingt mit Freude zu empfinden. Es erinnert an den zu schreibenden Aufsatz „Die Freuden der Pflicht“ in der Deutschstunde von Siegfried Lenz. Ohne Toleranz der anderen Bürger lässt sich die eigene Freiheitsliebe – die ganz subjektiv bestimmte eigene Lebensform – nicht leben.

Wenn das Grundgesetz die Pflicht zur Toleranz gebietet, besteht auch der Anspruch eines jeden Anderen gegenüber auf Toleranz. Toleranz wird also nicht großzügig gewährt, sondern ist eine Selbstverständlichkeit jedem gegenüber, soweit dieser nicht konkrete Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Beim miteinander Leben in einer offenen Gesellschaft bedarf es also neben dem Verständnis zur Pflichtübung der Toleranz auch eines bestimmten Verständnisses der Rechtsordnung. Fehlt im Einzelfall ein solches Verständnis, kommt es zu Kollisionen, die ggf. nur eine Auflösung im Gerichtswesen finden. Gewalt als Gewaltmonopol hat nur der Staat.

Allgemeine Moralvorstellungen auch ggf. getragen von einer Mehrheit der Bürger erzeugen keine Verbindlichkeit zur Lebensführung eines jeden. Moral ist nicht mehr als gelernte Verhaltensweise einer bestimmten sozialen Gruppe; eine „richtige“ Moral gibt es nicht. In diesem Sinn – das Verhalten der Mehrheit ist richtig – ist auch der Begriff „Sittengesetz“ im Artikel 2 nicht zu verstehen. Respekt anderen gegenüber fordert das Grundgesetz, wenn es von „Sittengesetz“ spricht. Der heute suspekt gewordene Begriff „Sittengesetz“ kann nicht bedeuten, dass das, was eine eventuelle Mehrheit der Bürger für Sitte hält, Verhaltenspflichten erzeugt, die der grundgesetzlich verbrieften freien Entfaltung der Persönlichkeit – Artikel 2 – zu wider läuft. Es geht um die Freiheit in Artikel 2; und Freiheit ist immer auch die Freiheit der anderen. Und die Wahrheit, wie das Leben zu gestalten ist, hat keiner im Besitz; das lässt sich bis hin zu den griechischen Philosophen nachlesen.

Unter Bezug auf Art. 2 GG lässt sich auch selbstverständlich die Nacktheit im öffentlichen Raum rechtfertigen, die ggf. der einzelne Bürger für sich in Anspruch nimmt. Es gibt keine Rechtsvorschrift, die die Nacktheit explizit verbietet.

Auch historisch gesehen ist Nacktheit in der Öffentlichkeit in unterschiedlichem Ausmaß immer praktiziert worden- nicht nur in Deutschland. Und es bleibt schlicht die nicht bestreitbare Tatsache, dass Nacktheit der natürliche Zustand des Menschen per Geburt ist. Also nichts Unanständiges.

Das haben auch die Verfechter der Berechtigung, nackt in der Natur sich zu bewegen, mit der Begründung der FKK-Bewegung vor ca. 125 Jahren in Deutschland so gesehen. Es entwickelte sich eine neue Idee der Freiheit und Toleranz am Ausgang der Biedermeierzeit, die von Spießigkeit und Doppelmoral geprägt war. Nacktheit in der Öffentlichkeit war immer noch hoch suspekt und so fand sich für das gemeinsame Interesse an der Nacktheit der etwas verschrobene Begriff FKK – Freikörperkultur. Mit dieser Kultur verbanden sich sehr unterschiedliche Lebensweisen teilweise stark ideologisch geprägt. Verblieben ist heute von den Anfängen der FKK im Wesentlichen nur die Lust und Freude am einfachen Nacktsein, wie es Griechen schon in der vorsokratischen Zeit im Sinn des Naturismus, wie wir diesen heute auch sehen, praktizierten. Naturismus verstanden als eine Lebensweise im Einklang mit der Natur, die der Mensch ggf. im natürlichen nackten Zustand wahrnimmt.

Das heute – im Gegensatz zur Biedermeierzeit – Nacktheit eine ganz andere Popularität erlebt, haben wir auch der außergewöhnlichen Verfassung von 1949 – unserem Grundgesetz – zu verdanken. Ganz wesentlich getragen von den Gedanken Menschwürde, Freiheit, Toleranz, Pluralismus, Meinungsfreiheit, Demokratie usw.

In diesem geistigen Umfeld kann dann auch Nacktheit im öffentlichen Raum in passender Umgebung frei gelebt und praktiziert werden. Sollten sich einzelne Menschen beim Anblick von nackten Körpern irritiert oder gar gestört fühlen, so muss diesen gesagt werden und sie müssen es hinnehmen, dass eine Pflicht zur Toleranz abgeleitet aus Art. 2 GG besteht. Das gilt insbesondere, da es kein gesetzliches Verbot der Nacktheit gibt und der § 118 des OWiG nicht zur Anwendung kommen kann, wenn einzelne Menschen sich subjektiv beim Anblick von Nackten gestört fühlen. Ein störungsfreies Leben garantiert unser GG nicht!

Nackte im passenden Umfeld verletzen weder die Rechte anderer noch verstoßen sie gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz.

Das Sittengesetz ist nicht kodifiziert und mag 1949 – Entstehung des GG – noch bestimmte Vorstellungen erweckt haben. Heute wird man bei Klärung von Rechtsfragen kaum eine Anspruchsbasis zur Beurteilung von Sachverhalten im Sittengesetz suchen bzw. finden. Bestimmte Moralvorstellungen sind es nur mit Einschränkungen; es gilt nicht, dass Mehrheiten immer das Verhalten von Minderheiten bestimmen können; es gelten auch immer Rechte von Minderheiten. Vor der Tyrannei der Mehrheit durch Berufung auf Mehrheit hat schon Tocquevilles in „Die Demokratie in Amerika“ aufmerksam gemacht und gewarnt:

„Die Tyrannei der Mehrheit schränkt die Freiheit ein!“

Axel Geertz, Weidenbach

 

 

 

Fazit: Wertvorstellungen als Chance für eine vielfältige Gesellschaft

Die Vielfalt von Wertvorstellungen in unserer Gesellschaft kann eine Chance sein, um ein besseres Verständnis füreinander zu entwickeln und unsere Gemeinschaft zu stärken. Es ist wichtig, dass wir uns bewusst sind, dass jeder Mensch seine eigenen Wertvorstellungen hat und dass wir diese respektieren und akzeptieren sollten. Nur so können wir Konflikte vermeiden und eine harmonische Gesellschaft aufbauen, in der jeder Mensch seinen Platz hat.

Soziale Werte sind tief verwurzelte Überzeugungen und Ideale, die von einer Gemeinschaft geteilt werden. Sie dienen als Leitfaden für das Verhalten und die Entscheidungsfindung der Menschen in dieser Gemeinschaft. Diese Werte können sich von Ort zu Ort und von Kultur zu Kultur unterscheiden und können sich im Laufe der Zeit je nach den sich wandelnden Bedürfnissen und Prioritäten der Gesellschaft ändern. Gängige Wertvorstellungen sind Gleichberechtigung, Nachhaltigkeit, Gemeinschaft, Freiheit und soziale Gerechtigkeit. Individuen identifizieren sich mit bestimmten sozialen Werten, die ihre Identität und ihr Verhalten prägen. Soziale Werte sind entscheidend für die Gestaltung unserer Gesellschaft und haben einen direkten Einfluss auf die Art und Weise, wie wir leben und interagieren.

Für die tatsächliche Auslebung dieser Wertvorstellungen braucht es aber ein grundlegendes Verständnis dieser Werte. Denn sie werden zwar hochgelobt, stehen aber, wenn es Knall auf Fall kommt, nicht wirklich in ihrer eigentlichen Bedeutung zur Diskussion. Vielmehr zeigt sich bei einer genaueren Prüfung, dass die Werte wie die Freiheit, der Respekt und die Toleranz unreflektiert als Mittel zum Schutz der eigenen Kultur herangezogen werden – nicht als Zweck an sich selbst. Denn würden auf gesell­schaftlicher Ebene die genannten Werte vorbehaltlos gelebt, etwa gemäß der Freiheitsdefinition von Matthias Claudius – Freiheit besteht darin, dass man alles tun kann, was einem anderen nicht schadet –, so ließe sich ein Bedürfnis nach Nacktheit nicht als vermeintlich irrelevant für die moralische Weiterentwicklung unserer Gesellschaft abtun und rigoros tabui­sieren. Vielmehr müsste ein solcher Freiheitsbegriff zu einer eingehenden Diskussion über dieses Bedürfnis vor dem Hintergrund gegebener Sitten und Bräuche führen.

Angesichts der mangelnden Bereitschaft, eine doch so notwendige Diskussion zu führen, sollte die Relevanz, die einer Akzeptanz der Nacktheit des Menschen für die vorhandenen gesellschaft­lichen Probleme zukommt, berücksichtigt werden.

 

 

 

Bonus

Nachlese zum Toleranz-Tag am Gymnasium Hermeskeil

Nach dem Toleranz-Tag in unserem Gymnasium am 27.06.2023, bei dem es unter dem Motto „Du bist richtig so, wie du bist!“ um das Werben für mehr Toleranz und Akzeptanz gegenüber homosexuellen Menschen ging, hat sich ein Ethikkurs noch tiefer mit der gelebten Toleranz in unserer Gesellschaft auseinandergesetzt. Die Schüler des Kurses haben dabei aufgedeckt, was bei der Behandlung der Themen wie Rassismus, Vorurteile und Geschlechterrollen im Rahmen der Durchführung solcher Toleranz-Tage zwar auf die Fahnen geschrieben, im Zusammenhang mit der propagierten Toleranz und Freiheit dann aber doch nicht mitgedacht wird. Der Grundtenor in den nachfolgenden Reflexionen der Kursteilnehmer zum Toleranz-Tag ist die zu hinterfragende Feststellung:

 

Ein Mensch ist ein Mensch – fertig! Du meinst, dass dir das klar sei?!

Lese zur Überprüfung deiner Annahme doch einmal die folgenden Gedanken:

 

Ulricke:

These: Freiheit bedeutet, so sein zu dürfen, wie man ist!

– Stimmt das?

Natürlich bedeutet Freiheit, so sein zu dürfen wie man ist. Ist das auch immer der Fall? Viele Verhaltensweisen übernimmt man, ohne genauer auf sie einzugehen oder sie in Frage zu stellen. Doch ist das auch richtig? Es gibt viele Fälle, in denen das Verhalten anderer Menschen oder Gruppen als falsch, ekelhaft und abstoßend empfunden wird, obwohl es weder die Freiheit anderer einschränkt noch verletzt. Was ist mit dem Burkini oder FKK? In Schwimmbädern am Meer und bei Seen ist man hier in Deutschland in vielen Fällen gewohnt, Badebekleidung wie z. B. Badehosen, Bikinis oder Badeanzüge zu tragen. FKK wird oft verboten oder es werden eigene Abschnitte für FKKler gemacht. Dabei würde es eigentlich niemandem schaden, wenn FKKler zusammen mit Badehosen-, Bikini-, und Badeanzugträgern schwimmen, baden oder sich sonnen…

Über den Burkini wird sehr viel diskutiert. Sollte er verboten werden? Es gibt sowohl Argumente gegen wie auch für ihn. Wie sieht die Meinung in anderen Ländern aus? In den islamischen Ländern ist besonders für Frauen der Burkini sehr hilfreich. Für sie bedeutet Freiheit nicht immer so sein zu dürfen wie man ist. Denn es kann auch bedeuten, dass man sich nicht so zeigen darf wie man ist. Das gilt auch für alle anderen Menschen. Was ist mit unserer Ernährung? Wie z.B. Fleisch. Man schlachtet Tiere und schadet somit der Umwelt. Trotzdem wird es nicht verboten und es wird immer schlimmer. Früher hat man gejagt und weniger Fleisch gegessen. Doch heute ist der Fleischkonsum gewaltig gestiegen. Es wird Massentierhaltung betrieben und Ozeane werden leergefischt. Mittlerweile gibt es Alternativen wie z. B. Vegetarier, aber es sind immer noch zu wenige Menschen, die vegetarisch leben.

Ein sehr wichtiges Thema in der Freiheit ist die Toleranz. Doch was ist das überhaupt? Toleranz gegenüber anderen ist notwendig für das Leben in der Gesellschaft. Ignoranz ist keine Art von Toleranz. Denn Toleranz heißt, das, was andere machen möchten – auch wenn man es selber nicht möchte (z.B. nackt baden) –, zu respektieren. Man muss die Entscheidung anderer nicht richtig gut finden, aber man sollte sie anerkennen. Leider sind viel zu wenige Menschen tolerant, was man auch gut an der Flüchtlingskrise erkennt. Die Länder möchten nur so wenige wie möglich oder gar keine Flüchtlinge mehr aufnehmen. Viele Menschen denken, dass Flüchtlinge oder Homosexuelle anders sind. Aber das stimmt nicht. Jeder Mensch ist ein Mensch!

 

 

Filli:

Frage: Was ist Toleranz?

Toleranz ist, andere zu respektieren, so wie sie sind und keine falsche Meinung über sie aufzustellen, ohne dass man sie richtig kennt. Viele beschäftigen sich mit dem Thema „Toleranz“, weil es unmenschlich ist, andere auszuschließen und sie grundlos runterzumachen oder zu mobben – nur wegen ihrem Aussehen oder ihrer sexuellen Orientierung. Homosexuelle werden von den meisten direkt als anders abgestempelt. Jedoch andere finden, dass man sie akzeptieren muss. Denn ein Mensch ist ein Mensch. Dies bezeichnet man als „tolerant sein“.

Ich selber finde, dass Toleranz wichtig ist, um gut miteinander auszukommen. Denn das Leben ist zu kurz für unmenschliches Verhalten. Ich finde, es muss wirklich nicht sein, andere wegen ihres Aussehens zu beurteilen. Ich hoffe sehr, dass das auch andere so empfinden. Denn es ist wirklich wichtig, so zu sein, wie man ist und sich nicht umzustellen, nur um zu den „coolen“ zu gehören. Man sollte sich selbst erst einmal angucken und Fehler bei sich selbst suchen. Deshalb hatten wir auch am 27.06.2016 den Toleranz-Tag. Er sollte uns zeigen, wie wichtig Toleranz ist, um ein gutes Miteinander zu haben.

Mein Fazit: Andere so leben lassen wie sie es wollen!

 

 

Nala:

Freiheit und Toleranz sind für viele Menschen wichtig und kaum wegzudenken. Doch was ist das eigentlich? Existieren sie in unserer Gesellschaft überhaupt?

Freiheit ist ein Thema, das alle interessiert. Jeder möchte sie haben. Doch bei vielen ist es eben nicht so. viele wissen nicht einmal, was Freiheit überhaupt bedeutet. Freiheit ist für jeden anders. Doch für alle ist es eins. So sein zu können, wie man ist und sein will. Tun und lassen zu können, was man will. Das funktioniert jedoch nur solange, wie man die Freiheit anderer nicht einschränkt oder verletzt. Dann ist Schluss mit „tun und lassen können, was man will“. Jedenfalls war und ist die Freiheit nicht immer selbstverständlich. Zum Beispiel war Homosexualität bis in das späte 20. Jahrhundert verboten. Man konnte dafür sogar seine Arbeit verlieren und ins Gefängnis kommen. In einigen Ländern ist das auch heute noch so. Bei uns in Deutschland, wo eine Frau Bundeskanzlerin ist, ist es schwer vorstellbar; aber auch heute noch werden überall auf der Welt Frauen schlechter behandelt als Männer. Sie haben z. B. kein Recht auf Schule oder werden schlechter bezahlt. Freiheit ist also nichts Selbstverständliches. Doch was hat das mit Toleranz zu tun?

Toleranz ist ein wichtiger Bestandteil der Freiheit. Denn ohne Toleranz kann es überhaupt keine Freiheit geben. Tolerant sein heißt nämlich andere so zu akzeptieren, wie sie sind und das gibt anderen die Freiheit, so sein zu können, wie sie sein wollen. Z. B. sollte es in Schwimmbädern jedem erlaubt sein, zu tragen, was man will. Ob Burkini, Bikini, Badehose oder eben gar nichts. Jedem sollte das Recht gelassen werden, selbst zu entscheiden. Doch leider ist das viel zu selten so. Nackt baden wird in Schwimmbädern verboten und auch der Burkini ist ein Streitthema. Menschen, die Burkini tragen, schränken die Freiheit der Bikini- und Badehosenträger genauso wenig ein, wie andersherum. Trotzdem ist es verboten. Dies ist ein Beispiel, dass andere oft in ihrer Freiheit eingeschränkt werden – unbewusst!

 

 

Darius:

Burkini, Bikini, FKK – So sollte Freiheit und Toleranz im Schwimmbad aussehen.

Jeder Mensch empfindet eine andere Badebekleidung als passend. Wir in Deutschland tragen fast nur Badehosen, Bikini und Badeanzüge. Aber natürlich gibt es in anderen Ländern auch andere Sitten wie z. B. in den islamischen Ländern. In diesen ist es Frauen teilweise nur erlaubt, mit einem Burkini ins Wasser zu gehen und dabei nur sehr wenig Haut zu zeigen. Dies finden viele, vor allem wir Deutsche erschreckend, aber wir sollten auch mal darüber nachdenken, was Frauen, die Burkinis tragen, über unsere Badebekleidung denken?

Dann gibt es noch die Freikörperkultur. Hierfür werden häufig separate Strandgebiete eingerichtet. Aber warum eigentlich? Ist es den Leuten, die ihren Körper frei zeigen, unangenehm, zusammen mit Nicht-FKKlern zu baden, sich zu sonnen etc.? Wohl kaum. Vielen Menschen, die ihren Körper nicht frei zeigen wollen und es auch nicht müssen, ist es einfach unangenehm, mit nackt badenden auf einer Liegewiese zu sein. Aber schränkt es ihre Freiheit wirklich ein? Können sie nicht mehr rutschen, schwimmen oder springen, wenn nackte Menschen dabei sind? Das genau ist der Punkt. Viele Sachen, Meinungen und Empfindungen sind unbegründet. Denn FKKler sind ja nicht weniger ernst zu nehmen oder geschweige denn weniger würdevoll als Menschen in Badebekleidung. In diesem Punkt verhalten wir uns eigentlich nicht tolerant…

Doch die immer noch entscheidende Frage ist, warum so viele Leute gegen das Nacktschwimmen im öffentlichen Freibad oder auch im See sind und warum auch meist nur bei Erwachsenen? Wenn ein kleines Kind nackt im Schwimmbecken plantscht, stört es doch auch kaum jemanden. Aber wenn dies dann ein Erwachsener oder eine Erwachsene tut, sind direkt alle dagegen, finden es unangenehm oder auch peinlich. Das finde ich zwar, wenn ich ehrlich bin, auch, aber soll man diesen Menschen deshalb verbieten, so zu baden, wie sie es wollen? Denn dann wird wiederum die menschliche Würde verletzt. Und Würde bzw. Toleranz bedeutet ja auch, dass man jemanden so akzeptiert bzw. ernst nimmt, wie er ist.

Warum sollte man es denn nicht jedem selbst überlassen, nackt, mit Burkini oder mit unserer normalen Badekleidung ins Schwimmbecken zu gehen? Wenn man alle Argumente mal auf sich wirken lässt, gibt es keinen nachvollziehbaren Grund, dies zu unterbinden. Daher ist es unfair, es anderen zu verbieten – nur weil man es selbst nicht möchte.

 


Fußnoten

[1] Die Serie „Dafür stehe ich“ wurde am 28.12.2015 von Thomas Fricker in der Badischen Zeitung angekündigt.

[2] Diese Aussage ist auch die Schlagzeile des besagten Artikels aus der Badische Zeitung vom 14.12.2015, S. 21, der mich dazu bewog, diesen „Leserbrief“ zu verfassen.

[3] http://www.badische-zeitung.de/nachrichten/wirtschaft/unternehmer-werner-thieme-es-muss-so-etwas-wie-anstand-geben–115843958.html (Stand 04.02.2016).

[4] Nachzuhören als Podcast unter http://www.wdr5.de/sendungen/philosophischesradio, Titel: Die Freiheit verteidigen: Was wir für eine offene Gesellschaft tun müssen (Sendung vom 19.12.2015).

[5] Unübertrefflich fragwürdig sind in diesem Zusammenhang Titel der Glückratgeberliteratur wie Willst du NORMAL sein oder GLÜCKLICH? (Heyne) und Werde der du sein willst (G|U) von Robert Betz, Sei einzig. Nicht artig! von Martin Wehrle (Mosaik), Vorurteile – Wie unser Verhalten unbewusst gesteuert wird und was wir dagegen tun können von Mahzarin R. Banaji/Anthony G. Greenwald (dtv) oder Macht, was ihr liebt von Anja Förster/Peter Kreuz (Pantheon).

[6] Im Grundgesetz wird die freie Persönlichkeitsentfaltung zugesichert, solange man nicht gegen das Sittengesetz verstoße (vgl. Artikel 2,1). Das wirft die Frage auf, inwiefern ein Mensch bereits für sich selbst sittenwidrig sein kann. Das kann man meiner Ansicht nach nur, wenn man über das bloße Unbekleidetsein hinaus sittenwidrige Handlungen vollzieht, also beispielsweise exhibitionistisch auftritt.

[7] Vgl. Artikel 1,1.

[8] Badische Zeitung, Freitag, 08.01.2016, S. 34.

[9] Badische Zeitung, Samstag, 30.01.2016, S. 4.

[10] Ebd.

[11] Dass Sicherheit nicht vor Freiheit gehen kann, wird in einem anderen Leitartikel mit folgender Schlussfolgerung zu bedenken gegeben: „So zu tun, als brächten Aufrüstung und der Verzicht auf bürgerliche Freiheiten echte Sicherheit, ist zu wenig“ (Badische Zeitung, Dienstag, 09.02.2016). Dem füge ich noch hinzu, dass es natürlich die hier aufgezeigte Leerstelle ist, die ausgefüllt werden muss, um im ausreichenden Maße echte Sicherheit anzustreben.

[12] Vgl. ebd.

[13] Ebd.

[14] Anacharsis war ein skythischer Fürst, er wurde den Sieben Weisen zugerechnet (6. Jh. v. Chr.).

[15] Stobaios III 2, 42. Des Weiteren finden sich bei antiken Schriftstellern viele solcher „Homo homini lupus“-Aussagen (z. B. Platon, Protagoras 322 a–d).

[16] Vgl. Seneca Epist. 1,1: „Ita fac, Lucili, vindica te tibi (…)“ [Mach es so, Lucilius, befreie dich für dich selbst]. Eine Einsicht, deren Gelingen allerdings, wie die Glücksratgebertitel in Fußnote 6, von der Gesellschaft abhängig ist – und leider nicht von einem selbst.

[17] Badische Zeitung, Montag, 01. 02.2016.

 

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