Christoph Müller im Gespräch mit Ulrich Thomas Wolfstädter

„Wir müssen lernen, von vorneherein einfach den Menschen zu sehen“

Für viele Menschen sorgt das Gendern in der Sprache für Irritationen. Ulrich Thomas Wolfstädter ist nicht nur Naturist. Der Latein-und Philosophie-Lehrer versteht sich als denkender Mensch. Mit dem Buch „Krieg der Gendersterne“ hat er sich mit gendergerechter Sprache tiefgründig und inhaltlich anspruchsvoll beschäftigt. Christoph Müller hat den Austausch mit ihm gesucht.

Christoph Müller: „Krieg der Gendersterne“ heißt Dein aktuelles Buch. Dies klingt nach „Star Wars“. Geht es dabei um das Miteinander der Geschlechter? Oder wirfst Du einen Blick auf die gendergerechte Nutzung der Sprache?

Ulrich Thomas Wolfstädter: Ja, Star Wars ist hier der Titelgeber! Und wie dort scheint auch im Diskurs um die gendergerechte Sprache der Rahmen vorgegeben zu sein: Das Gute kämpft gegen das Böse. Anders wie in Star Wars scheint allerdings im Kampf um die angemessene sprachliche Berücksichtigung aller Geschlechter nicht klar zu sein, wer die „Guten“ und wer die „Schlechten“ sind. Und, um deine Frage noch zu beantworten, worum es mir in meinem Buch geht, muss ich sagen, dass letztlich beides verfehlt ist. Es geht mir um das Miteinander von Menschen, in Unabhängigkeit ihrer genitalen Merkmale, und um die Nutzung der Sprache als solcher, in Unabhängigkeit ihrer sexifizierten Verwendung.

Christoph Müller: Was ist für Dich die Motivation gewesen, dieses Buch zu schreiben? Was ärgert Dich besonders im gesellschaftlichen Diskurs?

Ulrich Thomas Wolfstädter: Das, was mich ärgert, ist zugleich meine Motivation, über das Wesen der gendergerechten Sprache aufzuklären. Unsere Gesellschaft ist so abgrundtief sexistisch, sodass niemandem mehr der Sexismus auffällt. Es gibt praktisch keinen Bereich mehr, wo das (zugeschriebene) Geschlecht keine Rolle spielt. Wir glauben, an unseren Genitalien die jeweilige Identität bestimmen – und dies dann auch sprachlich zum Ausdruck bringen zu müssen. Niemand stellt diesen Unsinn in Frage. Oder würde es bzw. hätte es etwa geholfen, den Rassismus zu überwinden, indem alle dunkelhäutigen Menschen mit einem Suffix am Wortende versehen werden, um durch diese sprachliche Maßnahme ihre gesellschaftliche und politische Gleichstellung zu erreichen und Rassismen abzubauen? Das wird wohl kaum jemand bejahen! Ich glaube daher, dass wir vielmehr lernen müssen, von vorneherein einfach den Menschen zu sehen und nicht erst unter Berücksichtigung seiner vermeintlich identitätsstiftenden Genitalien.

Christoph Müller: Im Alltag sind wir bemüht, gendergerecht zu sprechen und zu schreiben. Du dokumentierst, dass es keine wissenschaftliche Begründung dafür gibt. Warum sollen wir es möglicherweise trotzdem tun?

Ulrich Thomas Wolfstädter: (lacht) Theoretisch deshalb, weil man glaubt, „Geschlechter“ in die Gleichberechtigung bringen zu müssen. Doch damit leidet das Bemühen um die Gleichberechtigung immer unter den Bedingungen divergenter Identitätszuschreibungen, die wunderbar mit Rollenbildern und Hierarchisierungen versehen werden können. Denn wenn wir Geschlechtsidentitäten haben und sie immer wieder sprachlich zum Ausdruck bringen, dann sedimentieren wir damit zugleich Rollenbilder und Stereotype, die wir eigentlich überwinden wollen. Das ehrenwerte Ziel, das mit der Genderlinguistik verfolgt wird, kolportiert sich also selbst. Das ist es, was auf gesellschaftlicher Ebene erkannt werden muss.

Christoph Müller: In der Sprache orientieren wir uns an dem Genus-Sexus-Prinzip. Was heißt dies eigentlich? Reicht es nicht, einfach tolerant zu leben und zu sprechen?

Ulrich Thomas Wolfstädter: Das in der Sprachwissenschaft sogenannte Genus-Sexus-Prinzip geht der Frage nach, ob es zwischen dem grammatikalischen Geschlecht (Genus) und dem biologischen Geschlecht (Sexus) eine Verbindung gibt. Ich jedenfalls kann keine finden. Und genau deshalb: Es reicht eigentlich tolerant zu leben und zu sprechen, wie Du es zu bedenken gibst. Denn wenn es das Genus-Sexus-Prinzip nicht gibt bzw. es künstlich in unserer Kultur geschaffen wurde, und ja doch mehr Probleme aufwirft als gangbare Lösungswege aufzeigt, dann hält die Sprache bereits bereit, was wir im Grund alle Wollen: Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit. Aber nicht, weil Mann und Frau sowie alles dazwischen oder darüber hinaus dies sind, sondern weil sie alle Menschen sind.

Es würde daher uns alle dem Ziel der Gleichbehandlung und -stellung aller Menschen näherbringen, wenn wir uns auf das besinnen, was die Sprache vermag, sprich schlicht und ergreifend von Schülern, Einwohnern oder Bäckern zu sprechen. Denn damit sind selbst jene Menschen „mitgemeint“, die einen Penis haben!

Christoph Müller: Du betonst, dass die sprachfeministische Gegenwehr auf emotionaler Ebene und im Rahmen des kultürlich konditionierten und sozialisierten Sprachgebrauchs verständlich sein kann. Ist es möglich, einen Bogen zum Naturismus zu schlagen?

Ulrich Thomas Wolfstädter: In meinen Büchern lege ich dar, dass die sprach­lich bemühte Sichtbarmachung der Geschlechtsidentitäten von der verschämten Ver­hüllung der Genitalien, wie sie in unserer Kultur und Gesellschaft vorherrscht, abhängt. Das heißt also, dass es die Genitalscham ist, die die gendergerechte Sprache bedingt. Das sage ich im Übrigen mit direktem Blick auf die Psychoanalytik Sigmund Freuds, weil die gesellschaftlich oktroyierte Genitalscham dafür sorgt, dass die Geschlechtsteile doch wieder einen Weg in die Sichtbarkeit finden. So geschieht dies derzeit verstärkt mithilfe der Schaffung von Geschlechtsidentitäten und des darauf abhebenden geschlechtsbezogenen Sprechens. Die Akzeptanz öffentlicher Nacktheit im Sinne des Naturismus auf gesellschaftlicher Ebene würde dem deutlich entgegenwirken, weil das Hauptaugenmerk nicht mehr auf dem unterdrückten Verborgenen läge und somit an Bedeutung verlöre, sondern auf der Akzeptanz des Menschen in Unabhängigkeit seines Geschlechts.

Christoph Müller: Inwieweit wäre es unter Naturist_innen aus Deiner Sicht spannend, eine Diskussion zur (gendergerechten) Sprache zu führen? Braucht es in einer schweren Zeit den Diskurs unter Naturist_innen, um am eigenen Selbstverständnis zu arbeiten?

Ulrich Thomas Wolfstädter: Unbedingt! Und der Grund liegt in der gendersensiblen Formulierung Deiner Frage, die Du trotz meiner Ausführungen zu diesem Thema in dieser Art und Weise gestellt hast. Denn mir ist es völlig schleierhaft, weshalb ich ein_e Naturist_in sein muss, um die Welt zu retten. Das Bemühen und der Kampf um Freiheit und Toleranz kann doch nicht davon abhängen, dass mein Genital, das mir meine zugeschriebene Geschlechtsidentität verleiht, sprachlich zum Ausdruck gebracht wird. Wenn ich mich für die Werte der Freiheit und der Toleranz einsetzen möchte, dann muss ich das unter Vernachlässigung körperlicher Merkmale, die Menschen haben, tun, – wozu eben auch die primären Geschlechtsmerkmale zählen! Um den derzeit vorherrschenden Krisen begegnen zu können, reicht es meiner Ansicht nach also, ein Naturist zu sein. Mehr noch: Es ist nahezu die Voraussetzung dafür. Denn gerade die Freikörperkultur und der Naturismus macht uns als Menschen gleich, mitunter weil unterschiedliche Genitalien kein Grund für Scham oder Ausgrenzungen sind. Genau das ist es aber, was auf gesamtgesellschaftlicher Ebene eingeübt werden müsste.

Christoph Müller: Welche Impulse können wir von Dir noch erwarten, die Brücken von der Philosophie zum Naturismus schlagen? Arbeitest Du an einem weiteren Buch?

Ulrich Thomas Wolfstädter: Ich gehe demnächst auf Vortragsreise! Ich werde die Möglichkeit haben, Menschen zu erreichen, die ihrem Glauben nach mit Naturismus nichts zu tun haben. Das wird sicher spannend, die Brücke zur Nacktheit zu schlagen, wo im Allgemeinen keine Verbindung gesehen wird! Ein neues Buch? Aber ja, die Idee und der Stoff sind da – nur die Zeit für die Ausarbeitung noch nicht (lacht).

Christoph Müller: Ganz lieber Dank, lieber Ulrich.

Das Buch, um das es geht

Ulrich Thomas Wolfstädter: Krieg der Gendersterne, Verlag Frank &Timme, Berlin 2022, ISBN 978-3-7329-0870-7, 165 Seiten, 18 Euro.